Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Pferdegesicht. Sie
war mittelgroß und ein wenig mollig. Auch wer sich nicht sonderlich für Mode interessierte, musste bemerken, wie teuer das
taubenblaue Straßenkleid im Empire-Stil mit den Kaskaden isabellfarbener Spitzen über Schultern und Brust war. Sie legte ihren
Umhang mit einer Gebärde ab, die verriet, dass sie ihn für gewöhnlich einer aufmerksam wartenden Zofe zuwarf.
Als hätte Amy ihre Gedanken gelesen, fügte sie lächelnd hinzu: »Die verrückte Engländerin.«
»Oh …« Louise errötete vor Verlegenheit, aber die Dame winkte ab.
»Es kränkt mich nicht, wenn man mich so nennt. Ich bin der Gesellschaft fünfzig Jahre voraus, da wird man leicht für verrückt
gehalten. Aber nun reden wir von Ihnen! Ich bin so froh, dass ich Sie aus dieser entsetzlichen Situation retten konnte. Jetzt
erzählen Sie mir erst einmal alles, ja? Unser Anwalt muss Bescheid wissen, wenn wir Ihnen zur Seite stehen sollen.«
Louise blickte sie an, zögernd, wie weit sie sich dieser überraschenden neuen Bekanntschaft anvertrauen sollte. Es waren kluge
Augen, die ihren Blick erwiderten, und das Lächeln war warm und aufrichtig.
»Ich verstehe noch nicht ganz«, antwortete sie unsicher. »Warum hat man mich so plötzlich freigelassen? Und was meinen Sie
mit ›unser Anwalt‹?«
»Sehr einfach. Ich habe heute Morgen von der verzweifelten Situation erfahren, in der Sie sich befinden, und mich sofort an
den Rechtsschutzverein für Frauen gewandt. Ist Ihnen dieser Verein ein Begriff?«
Louise blinzelte. »Davon habe ich noch nie gehört. Was ist das?«
Amy begann zu erklären. »Das ist ein Verein, den die Frauenrechtlerin Marie Stritt vor Kurzem in Dresden gegründet hat, um
Frauen in all den Ungerechtigkeiten zu helfen, die ihnen angetan werden. In Hamburg gibt es noch keine offizielle Zweigstelle,
aber es gibt bereits einen inoffiziellen Kreis angesehener Damen, der dieselben Ziele verfolgt. Und ich bin eine von ihnen.
Wir engagieren Rechtsanwälte, von denen wir wissen, dass sie der Sache der Frauen freundlich gegenüberstehen. Leider müssen
es vorderhand Männer sein, es gibtja noch keine weiblichen Juristen, aber das wird schon noch kommen.« Sie beugte sich eifrig vor. »Ich habe Dr. Taffert von Ihrem Fall erzählt, und er hat beim zuständigen Polizeirat erreicht, dass man Sie gegen Ehrenwort auf freien Fuß
setzt. Zwar wird die Untersuchung fortgesetzt, aber es genügt, dass Sie Hamburg nicht verlassen. Dr. Taffert ist großartig, sage ich Ihnen! Sie müssen Ihren Fall in seine Hände legen! Er ist ein exzellenter Anwalt und wird
Ihnen gewiss helfen können.«
Louise zögerte. Rechtsschutzverein für Frauen! Das klang einerseits tröstlich. Andererseits stand sie diesen umtriebigen Frauenrechtlerinnen,
die ständig irgendwelche Hilfsvereine gründeten, skeptisch gegenüber. So eifrig Raoul sich für das Gemeinwohl eingesetzt hatte,
für solches Engagement hatte er kein Verständnis gehabt. Das sind komische Weiber, pflegte er zu sagen. Was wollen sie denn?
Die Natur zwingen, dass sie jetzt auch den Frauen einen Vollbart wachsen lässt?
»Ich habe zurzeit kein Geld«, wandte Louise ein. »Jeden falls nicht genug, um einen Anwalt zu honorieren.«
Amy wischte den Einwand mit einer großzügigen Handbewegung beiseite. »Das haben die anderen auch nicht. Unsere Anwälte werden
nach Erfolg bezahlt.« Sie lächelte verschmitzt. »Das macht ihnen Beine, weil sie ihr Honorar erst bekommen, wenn sie ihrer
Klientin Recht verschafft haben.« Sie ergriff Louises Hände und blickte sie voll Zärtlichkeit an. »Darling«, flüsterte sie.
»Ich weiß, wie es Ihnen geht. Sie sind beileibe nicht die einzige Witwe, auf die von allen Seiten die Pfeile des Neides, der
Missgunst und Verleumdung abgeschossen werden. Aber jetzt haben Sie Freundinnen, die auf Ihrer Seite stehen.«
Ob es nun an dem heißen alkoholischen Getränk lag oder der Warmherzigkeit der Dame oder der betäubenden Wirkungder Hoffmannstropfen – Louises Selbstbeherrschung bröckelte wie feuchter Gips. »Es ist entsetzlich«, stammelte sie. Sie barg das Gesicht in den
Händen und begann bitterlich zu weinen. Zu schrecklich waren die Erinnerungen, die auf sie einstürmten.
Sofort legte sich eine weiche, tröstende Hand auf ihre Schulter und streichelte sie. Weiter tat und sagte Amy nichts, sie
ließ der verstörten jungen Frau Zeit, sich herzlich auszuweinen. Erst als diese schließlich ihre Tränen
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