Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
hatte er auch recht gehabt mit der Vermutung, dass sie ihm mit Absicht verabreicht
worden war.
Aber wer in aller Welt würde so etwas tun?
D ie S uffragette
1
Louise schreckte aus ihren Gedanken hoch, als die Tür von Neuem aufgesperrt wurde. Kam der Kriminalbeamte zurück? Oder – nein,
nur das nicht! – Inspektor Trattenbach? Es war aber keiner von beiden, sondern eine Beschließerin, die den Kopf hereinsteckte
und bellte: »Anziehen – zusammenpacken – rauskommen!«
Louise wusste vor lauter Verwirrung erst gar nicht, was von ihr erwartet wurde. Sie wickelte sich in den Mantel, klemmte den
Hut unter den Arm und stolperte hinaus. Die Wärterin packte sie am Arm und führte sie in eine Kanzlei, wo man ihr ihre Handtasche
und ihren Schmuck aushändigte. Sie musste eine Quittung unterzeichnen. Dann schob man sie wieder hinaus in den Korridor.
Louise eilte atemlos den gefliesten Flur entlang, an dessen Wänden mehrere Leute – offenbar Besucher der Gefangenen – auf
hölzernen Bänken saßen. Da sie weder nach links noch nach rechts schaute, erschrak sie aufs Heftigste, als sie mit Namen angesprochen
wurde und gleich darauf eine Hand ihren Arm fasste. Sie wollte schon aufschreien, überzeugt, dass ein Scherge sie wieder zurückzerren
wollte. Stattdessen blickte sie in ein liebenswertes Gesicht unter einem breitkrempigengrauen Filzhut, den ein dramatisch anzusehendes Gesteck aus Tüll und Federn krönte. Eine üppige Mähne flachsblonder Locken
ringelte sich um ein von lebhaften grauen Augen beherrschtes, milchig blasses Gesicht, auf das einzelne Sommersprossen wie
mit dem Tuschepinsel hingetüpfelt waren.
Irgendwo hatte sie dieses Gesicht schon gesehen, aber in ihrem aufgewühlten Seelenzustand konnte sie sich nicht erinnern,
bei welcher Gelegenheit. Sie war so überrascht, dass sie verwirrt stammelte: »Verzeihung, aber ich bin im Augenblick ganz … ganz außer mir. Mein Mann hat sich … mein Mann hatte einen tödlichen Unfall, an dem man mir die Schuld gibt.«
»Ich weiß, ich weiß. Kommen Sie – nur weg von diesem entsetzlichen Ort! Sie sehen ja aus, als würden Sie jeden Augenblick
ohnmächtig werden.« Die Dame sprach exzellentes Deutsch mit einem englischen Akzent. »Unser Anwalt hat erwirkt, dass Sie freigelassen
werden. Und nun brauchen Sie unbedingt eine kleine Stärkung!«
Bevor Louise noch wusste, wie ihr geschah, hatte die Fremde sie bereits untergehakt und manövrierte sie energisch durch das
grimmige Löwenportal hinaus, ein kurzes Stück die Straße entlang zu einem Kaffeehaus. Sie wurde hineingeschoben und in einer
behaglichen Ecke auf einen Sitz gedrückt. Während die Unbekannte ihr das Fläschchen mit den Hoffmannstropfen aufdrängte, rief
sie gleichzeitig in herrischem Ton nach dem Kellner und bestellte zwei Gläser Tee mit Zitrone, eines davon mit reichlich Brandy
darin, das sie Louise zuschob. »Well«, erklärte sie dann, sehr zufrieden mit ihrem guten Werk. »Gleich werden Sie sich wohler
fühlen. Sie sind in Sicherheit, my dear. Hier, nehmen Sie ein Kölnisch-Wasser-Tüchlein und erfrischen Sie sich ein wenig,
Sie sehen nämlich absolut grauenhaft aus.«
Louise warf einen vorsichtigen Blick in den Taschenspiegel, den die Fremde ihr reichte, und stellte fest, dass sie tatsächlich
grauenhaft aussah. Ihre Haut war leichenfahl, ihre Augen sahen aus wie mit verschmierter Tinte umrahmt. Sie murmelte entschuldigend:
»Sie kennen mich offenbar, aber ich … ich bin jetzt nicht ganz sicher, wo ich Sie schon gesehen habe?«
»Vermutlich beim Prommieren am Jungfernstieg. Ich bin Amy Harrington, die Tochter des britischen Botschafters. Wir wohnen
in dem Eckhaus zum Gänsemarkt, dem mit der graugrünen Stuckaturfassade.«
Der Nebel über Louises Erinnerung lichtete sich ein wenig. Paula Hahne hatte ihr von der exzentrischen jungen Engländerin
erzählt, die vor einem halben Jahr mit ihrem Vater ins Land gekommen war. Sie hatte herzhaft gelästert über das närrische
Ding, das sich eine Frauenrechtlerin nannte und allen Leuten damit in den Ohren lag, wie schlecht die Frauen behandelt würden.
Als hätte es ihr jemals an etwas gefehlt – ihr, die reich, bildhübsch und eine gefragte Partie war!
Lady Harrington war neunzehn Jahre alt, eine junge Frau, der, wohin sie auch ging, viele bewundernde Männerblicke folgten.
Sie hatte nichts gemeinsam mit dem konventionellen Bild der Engländerin als einem knochigen Mannweib mit
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