Die Frau des Diplomaten (German Edition)
auseinander und suche nach dem Namen der Frau. „Lebonski, Hannah“, lese ich vor. Der Doktor schickt sie auf die Krankenstation, dann wendet er sich dem nächsten Patienten zu.
Beharrlich versuche ich, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Paul ist hier. Hätte ich ihm sagen sollen, wer ich bin? Ich sehe hoch und beobachte, wie die Soldaten sich um die Befreiten kümmern. Paul beteiligt sich nicht, und dann entdecke ich ihn, wie er etwas abseits unter einem Baum sitzt und die Hände vors Gesicht hält. Betrunken und faul, denke ich, während ich die Angaben einer älteren Frau überprüfe, die fast bis aufs Skelett abgemagert ist. Wie konnte ich mich nur so in diesem Mann täuschen? Doch trotz meiner Abscheu fühle ich noch etwas anderes, ein seltsam warmes Gefühl in der Magengegend. Plötzlich hebt Paul den Kopf und schaut zu mir. Unsere Blicke treffen sich für einen Sekundenbruchteil, dann sehe ich schnell wieder auf meine Liste. Meine Wangen werden rot, ich spüre, wie er mich weiter beobachtet. Vermutlich überlegt er noch immer, woher er mich kennt.
Zwanzig Minuten später sind die Neuankömmlinge so gut wie erfasst. Ich sehe wieder zu dem Baum, aber Paul sitzt nicht mehr dort, und ich sage mir, dass es besser ist. Ich sollte ihn so Erinnerung behalten, wie ich ihn am Tag meiner Rettung erlebt habe. Die letzten Häftlinge sind untersucht worden, und ich lege die nicht benutzten Vordrucke zurück in die Schachtel, dann stehe ich auf. „Ich kenne Sie sehr wohl!“, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Erschrocken fahre ich herum, die Schachtel gleitet mir aus den Händen, die Formulare verteilen sich auf dem Rasen. Paul steht mit verschränkten Armen vor mir.
Ich fühle mich, als habe mir jemand die Luft aus den Lungen gepresst. „Sie haben mich erschreckt!“, bekomme ich schließlich heraus. Ich bücke mich und beginne, die Zettel aufzusammeln.
„Tut mir leid.“ Er kniet sich neben mich und hilft mir beim Einsammeln. Der Alkoholgeruch ist verschwunden, stattdessen rieche ich jetzt Minze in seinem Atem. Seine Bewegungen sind präziser, als sei er inzwischen nüchtern geworden. „Mir ist wieder eingefallen, woher ich Sie kenne.“ Er greift nach einem Papier, das neben meinem Knöchel liegt, und auf einmal ist sein Gesicht ganz dicht an meinem. „Sie waren die Frau in der Zelle in Dachau. Mary? Maria?“
„Marta“, sage ich und sehe angestrengt auf den Rasen.
„Ja, genau. Marta. Entschuldigen Sie.“ Ich merke, wie er mein Gesicht mustert. „Sie sehen nur so ganz anders aus. Und ich wusste nicht, dass Sie Englisch sprechen“, fügt er hinzu.
„Das konnte ich da auch noch nicht.“ Meine Wangen beginnen zu glühen. „Ich meine, ich kann es noch immer nicht. Jedenfalls nicht gut. Aber ich lerne jeden Tag.“ Mir wird mein Akzent bewusst, der mein Englisch einfärbt, und ich merke, wie sehr ich mich anstrengen muss, um all die richtigen Worte zu finden.
„Dafür klingt es schon ausgezeichnet.“ Er hat das letzte Papier aufgehoben und legt es zurück in die Schachtel, dabei streift er leicht meine Hand. Es erinnert mich an seine sanfte Berührung in der Zelle. Plötzlich wird mir schwindlig, er richtet sich auf und will mir hochhelfen.
„Gestatten Sie“, sagt er, und unsere Blicke begegnen sich. Ein besorgter Ausdruck huscht über sein Gesicht, ist aber so schnell wieder fort, dass ich überlege, ob ich es mir nur eingebildet habe. Hat er womöglich Mitleid mit mir?
Zögerlich lege ich meine Hand in seine. Wieder regt sich dieses warme Gefühl in mir. „D-danke“, stottere ich, als er mich auf die Beine zieht. Nur langsam lässt er meine Finger los, und schließlich drehe ich mich um und versuche meinen Atem zu beruhigen, während ich die Schachtel auf den Tisch stelle. Ich sehe, wie die Soldaten Vorräte auf ihre Lastwagen laden. „Werden Sie bald aufbrechen?“
Er nickt. „Wir versuchen, heute noch nach München zu kommen, und dann werden wir ausgeflogen. Ich weiß noch nicht wohin, wahrscheinlich geht’s Richtung Pazifik.“
„Oh“, mache ich. „Ich muss mich noch bei Ihnen bedanken. Dafür, dass Sie mich gerettet haben.“
„Das ist nicht nötig“, meint er mit einer abwehrenden Geste. „Ich habe nur meine Pflicht getan.“
Bevor ich darauf etwas erwidern kann, kommt einer der Soldaten auf uns zu. „Hey, Mattie, Planänderung. Einer der Wagen hat einen Achsbruch.“ Der Mann redet hastig, was es mir erschwert, ihn genau zu verstehen. „Die Reparatur wird
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