Die Frau des Diplomaten (German Edition)
mir, jemanden zu haben, dem ich mich anvertrauen konnte. Es war so, als hätte ich in ihr die Freundin gefunden, die mir ein Leben lang gefehlt hatte. Wir verbrachten viel Zeit miteinander und unterhielten uns, wenn wir abends durch die Straßen des Ghettos nach Hause gingen.
Zwischen Rose und mir hat sich ein ähnliches Verhältnis entwickelt, auch wir sind Freundinnen geworden. Ich sehe an ihr vorbei zum weitläufigen Rasen vor der Westseite des Schlosses. Dutzende von weißen Zelten wurden hier errichtet. Dort hat man die Menschen untergebracht, die keine akute medizinische Versorgung brauchen. Von Dava weiß ich, dass ich bald dorthin werde umziehen müssen. Ich weiß, sie hat mich Rose zuliebe so lange auf der Station gelassen, wie es nur irgendwie ging. Aber sie wird nicht mehr lange rechtfertigen können, wieso ich dort noch immer ein Bett belege, während andere Kranke es so viel nötiger haben.
Ich drehe mich wieder zu Rose, die den Kopf so weit hat sinken lassen, dass das Kinn auf ihrer Brust ruht. Ihre Augen sind halb zugefallen. „Du siehst müde aus“, sage ich.
„Mag sein, aber lass uns noch ein paar Minuten bleiben.“ Ich nicke zustimmend. Zwar wird Dava mir böse sein, trotzdem kann ich Rose diesen bescheidenen Wunsch nicht abschlagen.
„Marta?“
„Ja?“
„Was wirst du machen, wenn du von hier weggehst? Aus dem Lager, meine ich?“
Ihre Frage trifft mich unvorbereitet. Ich weiß, dass das Lager nur eine Zwischenstation ist und dass es jeder hier früher oder später verlassen wird. Werde ich nach Polen zurückkehren? Gelegentlich spiele ich mit dem Gedanken. In mancher Nacht träume ich, wie ich in unser Dorf zurückkehre und meine Mutter in der Küche unseres Hauses am Herd steht, während mein Vater vor dem Kamin sitzt und die Zeitung liest. Aber ich weiß nur zu gut, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Von meiner Familie und meinen Freunden ist niemand mehr da. Ich sehe die Gesichter unserer Nachbarn vor mir, wie sie sich auf dem Dorfplatz versammelten und zusahen, wie die Deutschen uns in Zweierreihen zum Bahnhof marschieren ließen. Pani Klopacz, die alte Frau, die jeden Tag bei meinem Vater Milch kaufte, beobachtete uns mit ernstem Blick durch einen Spalt zwischen ihren Gardinen. Andere, die wir seit Jahren kannten, drehten uns einfach den Rücken zu. Nein, bei diesen Leuten kann ich nicht wieder leben. Und ich ertrage auch nicht den Gedanken, nach Kraków zurückzukehren, weil das nur die schmerzhaften Erinnerungen an Alek und die anderen wecken würde. Aber wohin soll ich sonst gehen? Einige Frauen in meinem Englischkurs reden davon, in die Vereinigten Staaten oder sogar nach Palästina auszuwandern. Dava will mich auf die Liste der Visa für diese Länder setzen, doch ich weiß, dass ich, da ich keine Verwandten dort habe, unter Umständen jahrelang warten muss. Und selbst wenn ich ein solches Visum bekäme, wie sollte ich ganz allein in einem völlig fremden Land zurechtkommen? „Ich weiß nicht“, antworte ich schließlich und komme mir etwas albern vor.
Rose setzt zu einer Erwiderung an, doch dann huscht ein schmerzhafter Ausdruck über ihr Gesicht.
Ich beuge mich vor. „Was ist los?“
„N-nichts.“ Doch ihre Stimme klingt angestrengt, und ihr Gesicht ist noch blasser geworden.
Sofort stehe ich auf. „Du musst jetzt hinein.“
„Eine Minute noch!“, fleht sie mich an. Ihre Stimme ist jetzt wieder kräftiger, als hätte der Schmerz nachgelassen. „Sag Dava nichts. Bitte.“
„Ihr beiden!“, ruft jemand hinter uns. Wir drehen uns gleichzeitig um, und wie aufs Stichwort stürmt Dava mit schnellen Schritten auf uns zu.
„O weh“, flüstert Rose. Ich schaue nach oben zum frühabendlichen Himmel und frage mich, wie viel Zeit wohl verstrichen ist.
„Zehn Minuten!“, sagt Dava und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich hatte ausdrücklich von zehn Minuten gesprochen.“
„Es tut mir leid“, entgegne ich. „Wir haben jedes Zeitgefühl verloren. Ich bringe Rose jetzt ins Haus.“
Dava schüttelt den Kopf. „Vermutlich würdet ihr beide noch einen Umweg über Wien machen, und dann würde ich euch tagelang suchen.“ Ich will protestieren, doch Dava hebt abwehrend die Hand. „Ich könnte deine Hilfe bei einer anderen Sache gebrauchen, wenn du dich dazu in der Lage fühlst.“
„Ich fühle mich gut. Um was geht es?“
„Heute Abend erwarten wir eine Gruppe Lagerhäftlinge aus Ungarn, und die Frau, die mir üblicherweise bei der Aufnahme
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