Die Frau des Diplomaten (German Edition)
Krankenstation. Dort entdecke ich sie am anderen Ende des Saals, wo sie soeben Roses Temperatur misst.
Ich eile auf sie zu. „Was ist? Stimmt etwas nicht?“
„Rose hat leichtes Fieber“, antwortet Dava ruhig, doch in ihrem Blick kann ich Besorgnis erkennen.
„Mir geht es gut“, beharrt Rose und setzt sich auf. „Hat mit den Neuen alles geklappt?“
„Ja, alles gut.“ Ich überspiele mein Unbehagen. „Dava, ich muss dich um einen Gefallen bitten.“
„Was denn?“, fragt sie, ohne dabei aufzusehen.
„Ich brauche deine Erlaubnis, das Gelände zu verlassen. Nur für eine Weile. Ich habe jemanden wiedergetroffen. Es ist der Amerikaner, der mich aus Dachau gerettet hat.“
„Paul?“, fragt Rose interessiert.
Ich nicke hastig. „Ich möchte einen kleinen Spaziergang mit ihm machen.“
„Du kennst die Regeln, Marta“, betont Dava. „Das Lagergelände darf nicht verlassen werden.“
„Das weiß ich. Aber ich hatte gehofft, dass du ein Auge zudrücken könntest. Nur dieses eine Mal. Bitte.“
Dava zögert. „In nicht mal einer Stunde beginnt die Ausgangssperre.“
„Ich dachte, du könntest auf der Liste hinter meinem Namen einfach ein Häkchen setzen.“ Dava runzelt die Stirn, und mir wird klar, dass ich womöglich zu viel von ihr verlange.
Rose legt eine Hand auf Davas Arm. „Lass sie gehen, bitte. Mir zuliebe.“
Langsam dreht sich Dava zu ihr um und sieht schließlich wieder mich an, dann holt sie ein Stück Papier aus ihrer Kitteltasche. „Nimm diesen Ausweis für den Fall mit, dass dich jemand erwischt“, sagt sie und notiert etwas auf den Zettel, ehe sie ihn mir reicht. „Spätestens um Mitternacht bist du wieder zurück. Keine Minute später.“
„Das verspreche ich dir. Danke.“ Ich beuge mich vor und küsse erst Dava, dann Rose auf die Wange. „Und dir danke ich auch“, flüstere ich. „Aber wenn du dich nicht gut fühlst …“
„Es geht mir gut“, beteuert Rose leise. „Ich freue mich sehr für dich, Marta.“
Ich laufe aus der Station und durch das Foyer nach draußen. Auf der Terrasse bleibe ich stehen, denn dort, wo Paul vor ein paar Minuten noch gestanden hat, ist niemand mehr. Er ist gegangen, denke ich bestürzt. Vielleicht wollte er doch nicht auf mich warten und ist stattdessen mit den anderen in die Stadt gefahren. Ich suche den See ab, und dann entdecke ich ihn ein Stück weiter auf der rechten Uferseite. Er steht mit dem Rücken zu mir, vor der untergehenden Sonne ist er nur als Silhouette zu erkennen. Die Art, wie sein Körper sich von den breiten Schultern bis zu der schmalen Taille hin verjüngt, weckt in mir Gefühle, wie ich sie so nicht mal für Jakub empfunden habe. Ganz ruhig, sage ich mir. Es ist nur ein Spaziergang, etwas, womit er sich die Zeit vertreibt, bis er weiterzieht. Ich zwinge mich, ruhiger zu atmen und die Fassung wiederzuerlangen.
Als ich mich ihm nähere, dreht er sich zu mir um und beginnt strahlend zu lächeln. „Sehen Sie mal“, sagt er leise und deutet mit einer Kopfbewegung in Richtung Wasser. Dann erkenne ich, was seine Aufmerksamkeit so gefesselt hat: eine Entenmutter mit vier flauschigen, gelben Küken, die ans Ufer treiben. Alle schlafen sie und haben den Kopf unter die Flügel gesteckt. Ich mustere Paul, der mit fast kindlicher Freude die kleine Tierfamilie betrachtet.
„Bereit?“ Er sieht zu mir, unsere Blicke treffen sich. Er zwinkert, und wieder bemerke ich diesen eindringlichen Gesichtsausdruck, der mir schon zuvor an ihm aufgefallen war. Nein, es ist kein Mitleid, sondern etwas anderes.
Ich schlucke mühsam. „J-ja.“ Dann folge ich ihm zu dem Tor in dem niedrigen weißen Zaun, der das Schlossgrundstück umgibt. Paul hält mir das Tor auf, und ich betrete den Trampelpfad. Ein paar Meter weiter sitzt ein älterer Mann im Gras, er hält eine Angelrute, ein kleines Boot ist am Ufer festgemacht. Er betrachtet uns skeptisch, als wir an ihm vorbeigehen. Was für ein sonderbares Paar wir doch abgeben müssen. Der amerikanische Soldat und die Frau aus dem KZ. Aber Paul scheint die Blicke des Mannes nicht zu bemerken. Er pfeift eine leise Melodie, während wir weitergehen, und sieht zwischen den Bäumen hindurch zu den Berggipfeln.
„Hier ist es einfach wunderschön“, schwärmt er. „Es erinnert mich an unsere Ranch in North Carolina. Meine Familie baut am Fuß der Blue Ridge Mountains Tabak an, müssen Sie wissen. Aber die Berge bei uns sind nicht so beeindruckend wie diese hier.“ Er deutet auf den
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