Die Frau des Diplomaten (German Edition)
Verkehr zum Stillstand gekommen zu sein. Plötzlich ist mir danach, eine Weile zu Fuß zu gehen, und ich steige kurz entschlossen aus.
An der nächsten Ecke bleibe ich stehen, da ich unschlüssig bin, in welche Richtung ich gehen soll. Die Passanten strömen an mir vorbei, und schließlich lasse ich mich einfach treiben. Niemand hier weiß, was ich durchgemacht habe, und es kümmert auch keinen. Für ein paar Minuten kann ich so tun, als wäre ich eine ganz normale Britin auf dem Weg zur Arbeit, etwa als Verkäuferin in einem der Geschäfte. Die Sonne steht inzwischen höher am Himmel, die Luft ist wieder sommerlich warm, und ich spüre, wie ich beim Gehen ins Schwitzen gerate.
Plötzlich löst sich die Menge auf, der schmale Fußweg geht in einen weitläufigen Platz über, in dessen Mitte ein hoher Obelisk steht. Trafalgar Square . Mein Blick wandert die Säule empor. Hier war ich schon einmal, als ich mit Delia von einer Theateraufführung zurückkam. So wie damals wirkt dieser Platz auch jetzt riesig und beängstigend, und ich komme mir vor, als wäre ich Welten entfernt von den beschaulichen Straßen in South Kensington. Ich hätte nicht gedacht, dass ich auf eigene Faust so weit in die Stadt vorstoße. Von neuem Selbstbewusstsein erfüllt, bahne ich mir meinen Weg durch Taubenschwärme und Heerscharen von Fußgängern, bis ich die andere Seite des Platzes erreicht habe.
Ich biege nach rechts in eine Straße ab, die zu beiden Seiten von hohen Regierungsgebäuden gesäumt wird. Nach einer kurzen Wegstrecke gelange ich an eine Kreuzung. Links sehe ich den Westminster Palace, davor ragt Big Ben in den Himmel. Beim Anblick des riesigen Parlamentsgebäudes stelle ich mir die Politiker vor, wie sie debattieren und Entscheidungen treffen, die nicht nur auf die Engländer, sondern auch auf die Menschen auf dem Kontinent Auswirkungen haben. Plötzlich muss ich daran denken, wie die Welt tatenlos zusah, als die Deutschen über ganz Europa herfielen. Wut erfüllt mich. Warum nur hat keiner früher eingegriffen? Warum haben sie alle so lange gewartet?
Big Ben beginnt zu läuten. Elf Uhr. Fast zwei Stunden sind vergangen, seit ich Delias Haus verlassen habe. Vor mir befindet sich Westminster Abbey, dessen Türme die Bäume ringsum deutlich überragen. Ich überquere die breite Straße, um den Park zu erreichen. An einer Ecke steht ein Eisverkäufer mit seinem Wagen. Ich zögere. Eigentlich sollte ich mein Geld nicht für Süßes ausgeben, doch ich kann das Schokoladeneis fast schmecken. Ich entscheide mich für ein kleines Hörnchen und schlecke am Eis, noch bevor ich mir einen Platz auf einer Bank gesucht habe.
Der wunderbare Geschmack zergeht mir auf der Zunge, während ich zwei Eichhörnchen beobachte, die durchs Gras hüpfen. Dann sehe ich in Richtung Whitehall, wo vorwiegend Männer die Fußwege bevölkern. Sie sind zielstrebig unterwegs, um an ihre Arbeitsplätze zu gelangen. Wie ich so dasitze und das Eishörnchen in der Hand halte, fühle ich mich auf einmal hilflos und albern. Was soll ich jetzt mit meinem Leben anfangen? Auf diese Frage habe ich nie antworten müssen. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, und eigentlich stand immer fest, wie meine Zukunft aussehen würde: Heirat mit einem jüdischen Mann, vermutlich aus der gleichen sozialen Klasse wie ich, mit etwas Glück jemand, der ein wenig besser gestellt ist. Dann Kinder, so viele wie möglich. Das alles hat sich freilich geändert, als die Deutschen unser Land überfielen. Und jetzt, nach dem Krieg und all dem, was mit unserer Welt passiert ist, ist alles ungewiss. Ich bin ja gar nicht in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu treffen! Allein auf Davas Drängen hin habe ich mich bereit erklärt, nach London zu reisen, und es war Paul, der um meine Hand anhielt und damit entschied, dass ich ihm in die Staaten folge.
Nun wird mir zum allerersten Mal niemand sagen, was ich tun soll, niemand hat irgendetwas für mich geplant. Seit fast einem Monat wohne ich jetzt schon in Delias Haus, zunächst, um auf Paul zu warten, jetzt, um ihn zu betrauern. Ich kann ihre Gastfreundschaft nicht viel länger in Anspruch nehmen, doch wohin soll ich gehen? In Polen oder Österreich gibt es nichts und niemanden, das mich erwartet. Ich könnte ein Visum für Palästina beantragen. Oder für Amerika. Ich stelle mir vor, wie ich Pauls Familie besuche und ihr mein Beileid ausspreche. Aber ich habe ja gar kein Geld für eine solche Reise. Außerdem würde Pauls Familie wohl
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