Die Frau des Diplomaten (German Edition)
lässt meinen Magen knurren. Zum ersten Mal seit Tagen verspüre ich Hunger. Ich betrachte das Tablett, dann entscheide ich mich für eine Scheibe Toast. Während ich abbeiße, sehe ich mich im Spiegel über der Kommode. Mein Haar ist platt an den Kopf gedrückt, die Haut wirkt käsig, ich habe dunkle Ringe unter den Augen. Ich bin ungewaschen, ich habe mich von aller Welt zurückgezogen, und ich esse nicht – es ist fast so, als wäre ich freiwillig in meine Zelle zurückgekehrt. Ich schäme mich dafür. Sollte meine Befreiung etwa ganz umsonst gewesen sein?
Ich esse die Scheibe Toast auf und nehme ein paar Bissen vom Rührei, dann stehe ich auf und gehe ins Badezimmer, um mich zu waschen. Während ich mich ausziehe, sehe ich Pauls Erkennungsmarken auf meiner Brust. Betrübt mustere ich sie. Mit jedem Schritt, den ich nach vorn mache, werde ich mich ein Stück mehr von ihm und unserer gemeinsamen Zeit entfernen. Plötzlich überkommt mich der dringende Wunsch, ins Bett zurückzukehren und mich wieder zu verkriechen. Aber Paul würde nicht wollen, dass ich das tue. Wenn ich daran denke, wie ich ihm einst sein Selbstmitleid vorgeworfen habe … Bevor ich es mir anders überlegen kann, kehre ich ins Schlafzimmer zurück und öffne den Schrank, in dem meine Kleider frisch gebügelt auf der Stange hängen. Delia muss dafür gesorgt haben, dass sie gereinigt werden. Ich bin ein so undankbarer Gast. In aller Eile ziehe ich eines der Kleider an, ein grünes mit dezentem Blumenmuster.
Als ich nach unten gehe, finde ich die Küche verlassen vor. Die Teller vom Frühstück sind bereits weggeräumt. Auf einem Papier gleich neben dem Telefon hinterlasse ich eine Notiz, um Delia wissen zu lassen, dass ich ausgegangen bin. Dann begebe ich mich zur Haustür und trete hinaus in den frischen Septembermorgen, eine kühle Brise empfängt mich. Das Laub an den Bäumen ist immer noch grün, aber die Blätter rascheln lauter als noch vor ein paar Wochen. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und überquere den Platz. Während ich durch die ruhigen Straßen spaziere, fällt mir auf, dass die meisten Häuser hier noch größer und beeindruckender sind als das von Delia.
Nach einer Weile erreiche ich die Kensington Road, in beide Richtungen sind Personenwagen und Busse unterwegs. Auf der anderen Straßenseite erstreckt sich eine weitläufige Grünanlage, die Teil des Hyde Parks ist. Ich erinnere mich daran, wie ich dort mit Delia gewesen bin und mir bei der Gelegenheit vorgenommen habe, mit Paul einen Spaziergang zu unternehmen, sobald er in London ist. Plötzlich wird mir die Sicht genommen, ein großer Doppeldeckerbus hält genau vor mir. „Steigen Sie ein, Miss?“, fragt mich der Fahrer. Als ich mich umsehe, fällt mir auf, dass ich an einer Haltestelle stehengeblieben bin. Ich zögere, schließlich bin ich bislang nur gemeinsam mit Delia Bus gefahren. Doch plötzlich spüre ich das Bedürfnis, von hier wegzukommen, so schnell und so weit weg wie möglich. Ich steige ein, krame eine Münze hervor und bezahle meine Fahrkarte. Als der Bus einen Satz nach vorn macht, klammere ich mich an einer Haltestange fest.
An der nächsten Ampel nutze ich die Gelegenheit, um die Treppe hinaufzusteigen. Auf dem Oberdeck sitzt nur ganz hinten ein Mann, der die Times liest. Ich muss an die Schlagzeile denken, mit der Pauls Tod verkündet wurde, an das Foto, von dem er mich angestarrt hat. Ich vertreibe das Bild aus meinem Kopf und setze mich auf einen Platz weit vorne.
Ich schaue aus dem Fenster, als der Bus das Ende des Hyde Park erreicht, erst links und dann gleich wieder rechts abbiegt. Anstelle von Bäumen wird die Straße von hohen Gebäuden und einigen Werbetafeln gesäumt. Piccadilly! Auch hier war ich schon auf einem meiner Erkundungsgänge mit Delia. Wir fahren an dem Geschäft vorbei, in dem ich mir auf Delias Drängen hin neue Schuhe kaufte, dann vorbei am Ritz Hotel. Hier geht es nur langsam voran, und auf dem Fußweg drängen sich die Passanten, die von einem Geschäft ins nächste strömen. Alle paar Minuten hält der Bus, und ich höre von unten die Stimmen der zusteigenden Fahrgäste. Aber das sind geschäftige Londoner, die sich nicht für die Aussicht interessieren. Kurz darauf erreichen wir Piccadilly Circus . Die Gebäude hier sind mit Werbetafeln aller Art behangen: Plakate für Kaugummi, Haarpomade, Biersorten. Guinness tut dir gut und gibt dir Kraft , verkündet ein Werbespruch. Der Bus hält wieder an, vor uns scheint der gesamte
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