Die Frau des Diplomaten (German Edition)
nickt nur, stempelt die Pässe und reicht sie Renata zurück. Es kommt mir vor, als wäre ich jemand anders. Plötzlich muss ich an Emma denken. Nachdem ihr die Flucht aus dem Ghetto gelungen war, musste sie sich eine neue Identität zulegen. Sie wurde zu Anna, der Nicht-Jüdin. Schlimmer aber war, dass sie jeden Tag ins Hauptquartier der Deutschen gehen musste, um dort für Kommandant Richwalder zu arbeiten. Zu der Zeit hatte ich mit Ablehnung und Entrüstung auf ihr immer enger werdendes Verhältnis zu Richwalder reagiert. Erst heute kann ich abschätzen, wie schwierig das alles für sie gewesen sein musste. Sie hat in der ständigen Angst leben müssen, dass jemand hinter ihr Geheimnis kommen könnte. Ich frage mich, ob es ihr gut geht und ob ihr und Jakub die Flucht gelungen ist. Wenn ich Marek finde, kann er mir vielleicht mehr über Emma sagen.
Wir fahren weiter bergauf, die Grenze fällt hinter uns zurück, und ich habe einen ungehinderten Blick auf die schneebedeckten Berge. Es erinnert mich daran, wie ich das erste Mal nach meiner Befreiung erwachte und die Berge sah. Ich glaube, dass wir uns jetzt nördlich von Österreich befinden. Salzburg und das Schloss sind viele Kilometer von hier entfernt. Dennoch muss ich an Dava denken. Ich habe ihr kurz nach meiner Heirat einen Brief geschrieben und das Geld beigelegt, das sie mir geliehen hatte. Doch der Brief kam als unzustellbar zurück, und ein paar Monate später las ich in der Zeitung, dass viele der Auffanglager inzwischen geschlossen worden seien. Ich frage mich, was aus Dava geworden ist.
„Es dauert noch einige Stunden, bis wir Prag erreichen“, lässt Renata mich nach einer Weile wissen. „Wenn Sie müde sind, können Sie ruhig etwas schlafen.“
„Danke, aber ich habe während des Fluges geschlafen. Außerdem bin ich seit der Geburt meiner Tochter daran gewöhnt, mit wenig Schlaf auszukommen.“ Es bereitet mir ein wohliges Gefühl, an Rachel zu denken.
„Wie alt ist sie?“
„Achtzehn Monate. Haben Sie auch Kinder?“
Renata schüttelt den Kopf. „Ich war einmal schwanger, aber ich habe das Kind verloren. Das war während des Krieges.“
„Das tut mir leid. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.“
Sie räuspert sich. „Vielen Dank, aber ich fürchte, das ist unmöglich.“
Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, sehe ich wieder aus dem Fenster. Schließlich erreichen wir eine Kleinstadt. Die Häuser mit ihren tief heruntergezogenen Dächern erinnern mich an das Dorf, in dem ich aufwuchs. Als wir uns dem Zentrum nähern, wird der Wagen langsamer, eine Gruppe Kinder überquert die Straße. An einer Ecke sehe ich ein Haus mit leuchtend blauen Vorhängen, dabei fällt mir ganz plötzlich ein, dass wir daheim Vorhänge in der gleichen Farbe hatten. Ich kann mich noch genau erinnern, wie meine Mutter mit großer Sorgfalt den Stoff färbte und dann nähte, während mein Vater den Kopf darüber schüttelte, wie man nur eine so intensive Farbe wählen konnte. Einen Moment lang stelle ich mir vor, dass das dort das Haus meiner Eltern ist. Wenn ich hingehe und anklopfe, dann wird vielleicht meine Mutter aus der Küche kommen. In diesem Augenblick geht die Tür auf, eine stämmige Frau mit grauen Haaren kommt nach draußen, in einer Hand hält sie einen Besen. Sie bemerkt, dass ich sie anstarre, und mustert sekundenlang die schwarze Limousine. Schließlich dreht sie mir den Rücken zu und beginnt vor dem Haus zu kehren. Der Wagen fährt weiter und kommt an einem alten, schäbig gekleideten Mann vorbei, der auf einem Pferdewagen sitzt. Auf einmal erscheint mir diese Kleinstadt fremd und uralt, als wäre sie einem lange vergessenen Traum entsprungen.
Der Wagen beschleunigt, wir lassen die Ortschaft hinter uns, aus der schmalen Gasse wird eine frisch asphaltierte Straße. „Die Straßen hier sind aber in einem guten Zustand“, kommentiere ich.
Renata nickt. „Einer der wenigen Vorteile, die unsere Nachbarn uns bescheren. Die tschechische Industrie ist für die Wirtschaft der Sowjets von großer Bedeutung, daher sorgen sie dafür, dass die Straßen in Ordnung sind. Natürlich läuft im Westen mit dem Marshallplan so ziemlich das Gleiche ab. Das ist so grotesk …“
„Ich verstehe nicht.“
„Im Westen wird wiederaufgebaut, die Sowjets bauen wieder auf, nur eben jeder für sich. Nehmen Sie als Beispiel die Grenze. Die letzten zwanzig Kilometer bis zur Grenze sind die Straßen auf beiden Seiten eine Katastrophe, weil keiner die Strecke
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