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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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Zweitgeborenen, die Hälfte des heutigen Wertes des familiären Geschäfts zu erhalten. Gott gebe, dass Albert, wenn er das Mindestalter zum Eintritt in den Rat erreicht hat, im Geiste gereift sei und mir ebenda Ehre mache.«
    Die Worte waren schon längst verklungen, und dennoch schwiegen alle so still im Saal, dass man einen Holzwurm im Gebälk hätte kriechen hören können. Keiner der Anwesenden konnte oder wollte den gerade vernommenen Worten so recht Glauben schenken. Einen solch irrsinnigen und demütigenden letzten Willen hatten sie noch niemals zuvor vernommen.
    Zwischen den Brüdern schwelte seit Jahren eine unterdrückte, aber deutlich spürbare Abneigung. Für gewöhnlich wären sie lieber heute als morgen getrennte Wege gegangen, und nun sollte sie dieses Testament für weitere vier Jahre aneinanderzwingen?
    Albert war fassungslos. Er hatte mit einer Strafe gerechnet. Mit Buße, einer Stiftung, einer Pilgerfahrt, aber nicht damit, für die nächsten Jahre in einer Art Gefangenschaft leben zu müssen. Vollkommen ungläubig fragte er sich, wie sein Vater ihm das nur antun konnte.
    Der Schwestern entledigt, wandte der Sohn sich nun wieder seinem Vater zu. Mit plötzlich zarten Worten und einem sanften Gesicht fragte er: »Vater, die Zeugen sind hier, um das Testament zu holen. Sie warten bereits. Sage mir, wo du es versteckt hältst, damit ich es dir bringen und du es unterzeichnen kannst.«
    Wie aus einem Traum erwacht, zuckte der Alte zusammen. Sein Zustand wurde schlechter, seine Antworten brauchten länger. Es wurde Zeit.
    »Ja, genau. Der … der Nachlass … Mein Sohn, bringe mir mein Testament … Es … es liegt in der Truhe hinter dir … und meinen Gänsekiel …«
    Der Sohn schien nur auf diese Worte gewartet zu haben, denn der Aufbewahrungsort war ihm bislang noch unbekannt gewesen. Hastig ging er zur genannten Truhe und nahm das vorgefertigte Testament in zweifacher Ausführung zur Hand. Jedoch ignorierte er dabei die ausgestreckten zittrigen Finger des Vaters und las das Schriftstück zunächst Zeile für Zeile durch. Seine Miene verfinsterte sich, je länger er das Testament studierte. »Du alter Narr«, murmelte er düster und leise genug vor sich hin, sodass es der Vater nicht vernehmen konnte. Daraufhin übergab er das Testament seinem Begleiter und rieb sich unbesonnen die Augen mit Daumen und Zeigefinger.
    Der stumme Spitzbärtige nahm das Schriftstück, über den Körper des Alten hinweg, entgegen, dessen Finger fahrig dem Blatt folgten. Auch er las es ganz durch und schaute danach dem Untersetzten in die Augen. Ein kurzes Nicken seines Gegenübers genügte, um zu klären, was nun zu tun war.
    »Vater«, ertönte es laut. »Du solltest jetzt dein Testament unterzeichnen.«
    Mit flackernden Lidern und seitlich gekipptem Kopf konnte der Greis nur noch schemenhaft erkennen, was vor seinen Augen geschah. Kaum noch in der Lage, die Schreibfeder zu umfassen, ließ der Vater sich das Pergament von seinem Sohn entgegenhalten. Seine Bewegungen waren unendlich langsam. Während seiner Tätigkeiten im Rat der Stadt hatte der Alte tausendfach seinen Namen geschrieben, doch heute wog die Feder schwer in seiner Hand. Er unterzeichnete das Schriftstück zittrig und sackte gleich darauf vor Erschöpfung in sich zusammen.
    Ein deutliches Ausatmen war zu vernehmen, welches sich gleich darauf in ein boshaftes Lachen verwandelte. Endlich hatte der Sohn bekommen, was er wollte; nun war sein Ziel in greifbare Nähe gerückt.
    Weit weniger liebevoll entnahm er dem Vater die zwei unterzeichneten Papiere und befahl ihm rüde: »Öffne die Augen, Vater.« Die engelsgleiche Stimme seines Sohnes war nun endgültig verschwunden. »Hast du tatsächlich geglaubt, dass ich zulasse, was in diesem Testament steht?« Aufgebracht fing er an, durch den Raum zu stapfen. »Bist du wirklich ein solch törichter Bastard, der denkt, ich nähme mir selbst mein Erbe?«
    Hochzufrieden lehnte sich Conrad zurück und genoss die Aussicht.
    Einige Ratsherren machten bloß erstaunte Gesichter, andere wiederum taten lauthals ihren Unmut kund. Doch sein Bruder bereitete ihm die größte Freude. Mit bleichem Gesicht und tiefen Sorgenfalten auf der Stirn hatte er sich das Testament übergeben lassen. Seither verschlang er die Zeilen in tiefer Hoffnung, den ersehnten Fehler zu entdecken.
    Ecbert von Harn war nach einigem Kopfschütteln wütend aufgesprungen und forderte nun, das zweite Testament mit eigenen Augen zu sehen. »Gebt es mir,

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