Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
beiden Ratsherren, die ich zur Beweiskraft meines Testaments hier haben wollte?«
»Sie werden nicht kommen, Vater. Und weißt du auch, warum? Weil sie gar nicht wissen, dass du gerade stirbst. Niemand weiß es außer mir und meinem Freund«, entgegnete der Kahle boshaft und wies auf den Vogelgesichtigen.
Trotz des Wissens, dass es sinnlos war, flehte der Sterbende noch ein letztes Mal um sein Seelenheil. »Lass mich nicht … ohne Beistand sterben … ich … ich muss meine Sünden beichten!«
Fast gelangweilt blickte der Sohn auf seinen Vater herab. Kein Mitleid war seiner Miene zu entnehmen, und genauso kalt wie sein Blick waren auch seine nächsten Worte. »Es wird nun Zeit für dich zu gehen, Vater. Dein Tod soll schließlich wie ein von Gott gewollter aussehen, und ich möchte bereits betend und weinend vor deinem Leichnam knien, wenn Mutter aus der Kirche kommt.«
Ohne ein weiteres Wort von seinem Vater abzuwarten, nahm der Sohn einen Haufen Leinen zur Hand und nickte dem Vogelgesichtigen zu. Dieser umfasste mit unbewegter Miene die Hände des Grauen.
»Was habt ihr vor … nein … wartet. Das könnt ihr nicht machen. Lasst mich los, ihr …«
Seine krächzenden Worte wurden von den vielen Stofflagen der schneeweißen Laken erstickt. Es ging schnell. Der zuckende Körper konnte mühelos von den beiden starken Männern heruntergedrückt werden, denn die von der Krankheit ausgezehrten Glieder waren schon seit langer Zeit zu schwach, um sich zu wehren.
So wurde es eine kurze und stille Szenerie, bis der alte Leib sich endgültig geschlagen gab und die aufgerissenen blaugrauen Augen für alle Zeit erstarrten.
Conrad trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Ecbert von Harn hatte tatsächlich den einzigen wunden Punkt seines Plans angesprochen. Doch er war nicht unvorbereitet. Seine Taktik war wohldurchdacht und wurde sogleich in die Tat umgesetzt.
»Was wollt Ihr damit sagen, von Harn?«, fauchte Conrad kampfeslustig. »Überlegt Euch besser gut, was Ihr andeutet. Nichts habt Ihr gegen mich in der Hand. Jeder von Euch«, spie er wütend aus, während er mit dem ausgestreckten Finger auf jeden Einzelnen in der Runde zeigte, »hüte sich besser davor, etwas anderes zu behaupten, als dass ich trauernd am Bette meines geliebten Vaters kniete, während er mir die Aufbewahrungsstätte der Testamente selbst nannte. Ich war der Einzige, der ihm die Hand gehalten hat, als er friedlich dem Leben entschied. Wenn man jemandem Verrat an der guten Seele meines Vaters vorwerfen kann, dann meinem Bruder, der lieber den Schoß seiner dänischen Hure gewärmt hat, als seinem Vater den letzten Kuss zu geben.«
Conrad hatte sich während seiner flammenden Rede erhoben. Er musste mit allen Mitteln versuchen, jeden Verdacht des Betruges von sich abzulenken. Noch einmal holte er tief Luft. Sein drohender Zeigefinger ruhte nun schon eine ganze Weile auf seinem Bruder, der wie vom Donner gerührt dasaß. »Mein weiser Vater hat gewusst, dass sein Jüngster Hilfe brauchen würde, um die Sünde des Ungehorsams zu büßen. Du sollst Mutter und Vater ehren – so steht es in der Heiligen Schrift geschrieben –, und ich wurde von ihm auserwählt, um diesen seinen Wunsch zu erfüllen. Wenn also einer von Euch mein Tun angreift, so vergreift er sich ebenso an dem klugen Wort meines Vaters.«
Alle Ratsherren, so auch Ecbert von Harn, waren gescheit genug, um sich in Gegenwart eines Geistlichen nicht auf einen religiösen Disput dieser Größenordnung einzulassen. Geschickt hatte Conrad es verstanden, aus den Gegebenheiten einen Vorteil für sich zu erwirken, doch Ecbert von Harn durchschaute ihn. Kein heiliger Eifer ehrte Conrads Verhalten. Er hatte etwas zu verbergen. Auch wenn der Ratsherr sich hier und heute geschlagen geben musste, verriet ihm der Blick des Erstgeborenen von Holdenstede, dass er ein Geheimnis in sich trug.
Sei gewarnt, Conrad. Irgendwann machst du einen Fehler, und dann werde ich zur Stelle sein.
1
Es war früh am Morgen, als das kleine blonde Mädchen an der Hand der Mutter sein Elternhaus verließ, um mit dieser zum Markt zu gehen.
Einen Auftrag haben sie beide zu erfüllen, hatte ihre Mutter verschwörerisch gesagt. Sofort wurde das Interesse des Mädchens geweckt. Runa liebte Geheimnisse, und ihre Mutter machte sich das regelmäßig zunutze. Nahezu alle häuslichen Aufgaben waren dem blonden Wildfang zuwider, sodass Ragnhild gezwungen war, sich stets neue, interessante Geschichten auszudenken, um sie
Weitere Kostenlose Bücher