Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Tuchhandelsgeschäft sagen? All die Kleidung und die Möbel waren ihm egal. Ja selbst das morastige Grundstück auf der Grimm-Insel war doch bedeutungslos, wenn er keine Münzen haben würde, um ein Haus darauf zu bauen. Seine Zukunft hing an einem seidenen Faden, und die nächsten Augenblicke würden darüber entscheiden, wie das Leben für ihn, seine Frau Ragnhild und seine kleine Tochter Runa weitergehen würde.
Albert wusste, dass er seinen Vater vor zwei Jahren mit seinem Eigensinn vor den Kopf gestoßen hatte. Seither erwartete er die bislang ausgebliebene Strafe dafür. Zeit seines Lebens hatte sein Vater als überaus gerechter Mann gegolten, der Ergebenheit großzügig belohnte, Fehlverhalten jedoch hart bestrafte. Leider hatte Albert nicht die Hoffnung, dass der nahende Tod etwas an dieser Haltung verändert hätte – und er hatte Strafe verdient!
Als die Stimme des Vorlesenden verstummte und dieser durch ein Kopfnicken andeutete, dass die Aufzählung, die Albert betraf, nun vorbei war, setzte sich ein Kloß in seinem Hals fest. Noch immer fehlte der entscheidende Teil der Güterverteilung. Was hatte das nur zu bedeuten? Es schwante ihm Böses.
»Endlich … mein Sohn … du bist hier. Ich … Hast du … den Geistlichen mitgebracht? Und die Zeugen? Ich … ich will ihnen meinen letzten Willen übergeben, bevor ich den Segen empfange.« Seine Worte kamen schwach und leise. Die faltigen Lider fielen immer wieder zu.
Eine unheimliche Stille erfasste den Raum. Der Sohn antwortete nicht – mit einem gruseligen Lächeln blickte er auf seinen Vater herab.
»Wo ist mein Zweitgeborener?«, setzte dieser mühevoll nach.
»Sicher ist er bereits auf dem Weg hierher, Vater«, erwiderte der Sohn nun in einem sakralen Tonfall, der sich unnatürlich leise anhörte. Dabei ließ er absichtlich offen, ob er damit den Geistlichen oder seinen verhassten Bruder meinte.
Die ältere der Beginen-Schwestern wollte nun zaghaft aufbegehren und erklären, dass sie den anderen Sohn doch noch gar nicht hatte finden können, doch ihr Wort wurde im Keim erstickt.
»Ihr könnt jetzt gehen, werte Schwestern«, sprach der Kahle streng. »Habt Dank für Eure Gebete und Eure Fürsorge. Der Geistliche wird sicher jeden Moment kommen und meinen geliebten Vater zu unserem Herrn in den Himmel geleiten.«
Ein Blick, der keinen Widerstand erlaubte, ließ die verwirrten Schwestern tatsächlich in dem, was sie taten, innehalten. Es war nicht üblich, dass sie gingen, bevor der Bedürftige dem Leben entschied. Doch der Wunsch des Sohnes war eindeutig, und so gaben die Schwestern seinem Verlangen nach und gewährten ihm die letzten Momente des Abschieds allein. Lautlos verließen sie die Kammer und ebenso lautlos das große Kaufmannshaus in der Reichenstraße. Beide waren sie ein wenig froh darüber, den unheimlichen Sohn und den stummen Vogelgesichtigen hinter sich zurücklassen zu können.
»Ruhe bitte, meine Herren«, maßregelte der Testamentsvollstrecker die unruhigen Ratsherren, die ganz offensichtlich ebenso verwundert über die bisher ausgebliebene Verteilung des Vermögens und des familiären Tuchhandels waren. »Bevor ich nun abschließend zu dem Eschatokoll komme«, kündigte er jenen Teil an, in dem nur noch die Zeugen und Testamentsvollstrecker namentlich genannt wurden, »wenden wir uns zunächst noch dem letzten Teil der Dispositio zu. Es handelt sich um eine Anmerkung des Dahingeschiedenen, die ausschließlich seine beiden Söhne betrifft.«
Die Angesprochenen horchten auf. Nun war es so weit.
Wo Albert vor Anspannung kaum seinen Blick von dem Geistlichen zu nehmen wagte, musste Conrad sich ein spöttisches Grinsen verkneifen und stattdessen versuchen, im rechten Moment ein erstauntes Gesicht aufzusetzen.
Nach einem langen Räuspern hob der Vollstrecker auf bedeutsame Weise das Pergament vor die Augen und verkündete den letzten Abschnitt.
»Aufgrund seines Ungehorsams bestimme ich, dass mein zweitgeborener Sohn Albert bis zur Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres unter der Führung meines erstgeborenen Sohnes Conrad arbeiten wird und bis dahin keinen Teil des Familienunternehmens erbt. Stattdessen soll er jährlich eine Summe von zwanzig Silbermark erhalten. Während dieser Zeit unterliegt es meinem erstgeborenen Sohn Conrad, aus seinem Bruder einen rechtschaffenen Kaufmann und einen fügsamen Menschen zu machen – was mir leider nicht gelungen ist. Erst nach Ablauf der Frist gebührt es auch meinem
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