Die Frau des Seiltaenzers
Heutzutage werden Frauen mit vierzehn Jahren mannbar, und Männer lassen sich nicht zweimalbitten. Mit 25 hat eine Frau fünf Kinder, das Aussehen eines welken Krautkopfs, und der Mann sucht sich eine Jüngere als seine Buhle.«
»Wie du das sagst«, murmelte Magdalena tonlos vor sich hin; aber ein gewisser Vorwurf war nicht zu überhören.
»Ich rede ganz freimütig«, erwiderte Rudolfo, »meine Offenheit stört dich hoffentlich nicht. Vergiss nicht, ich habe einiges erlebt, das deiner Jugend noch bevorsteht. Dennoch fühle ich mich dir nahe wie keiner anderen Frau. Nichts wünschte ich sehnlicher, als mein Geschick mit dem deinen zu verbinden.«
Je länger Rudolfo vor ihr kniend auf sie einredete, desto mehr trat Magdalenas Unbeholfenheit gegenüber der heiklen Situation zutage. Und so versuchte sie seiner Umklammerung zu entgehen, indem sie aufsprang und einen Schritt zur Seite trat, wobei der auf dem Boden kniende Seiltänzer ein klägliches Erscheinungsbild abgab. In seiner Haltung, mit den Händen auf die Truhe gestützt, tat er ihr leid, und sie stammelte ein paar hilflose Worte der Entschuldigung. Da erhob sich Rudolfo.
Hätte Rudolfo sie ob ihrer Geziertheit und Anmaßung gescholten und aus dem Gauklerwagen gewiesen, Magdalena hätte ihm kaum böse sein können. Aber es kam ganz anders. Mit einer rührenden Geste ergriff der Seiltänzer ihre Rechte, führte sie mit innigem Blick zum Mund und küsste sie. Noch nie in ihrem Leben hatte ein Mann ihre Hand geküsst. Derlei Gebärden standen einer Frau von niederer Herkunft nicht zu. Schon gar nicht einer kahlen Novizin, die ihre Nonnentracht abgelegt hatte. Magdalena spürte, wie das Blut in ihren Schläfen pochte.
Und wie aus der Ferne vernahm sie schließlich Rudolfos Stimme: »Du hast meine Frage noch immer nicht beantwortet!«
»Welche Frage?«, wollte Magdalena abwesend wissen.
»Ob du morgen wiederkommst. Ich glaube, wir haben uns viel zu erzählen.«
»Ja. Wenn du es willst und wenn die Umstände es erlauben, werde ich da sein.«
Magdalena verließ Rudolfos Gauklerwagen verwirrt. Ein lauschiger Abend senkte sich über die Flussaue und zauberte feuchtkühlen Tau auf die Wiesen. Ein Dutzend Frösche oder mehr wetteiferten laut quakend miteinander. Es roch nach Sumpf und feuchter Erde. Sie war müde vom vielen Gehen. Aber sie brachte es nicht fertig, in ihren Wagen zu klettern und sich neben Melchior zu legen, als wäre nichts geschehen.
Wie im Traum begab sie sich zum Fluss und ließ sich im Ufergras nieder. Unerwartet wie ein Blitzschlag hatte sie die Begegnung mit Rudolfo getroffen. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und starrte in das träge Gewässer, das bisweilen murmelnd und gurgelnd, dann wieder lautlos an ihr vorüberzog.
Magdalenas Schicksal hatte eine unerwartete Wendung genommen, und sie wusste nicht, wie sie ihr begegnen sollte.
5. KAPITEL
D ie folgenden Tage und Wochen, in denen die Gaukler weiter mainabwärts zogen, waren nicht einfach. Bis Miltenberg, einem verträumten Mainstädtchen mit herausgeputzten Fachwerkhäusern, stießen sie allerorten auf Spuren, welche die Bauernaufstände hinterlassen hatten: brennende Getreidefelder, schwelende Scheunen und Bauernhöfe in Schutt und Asche. Zwar begegneten ihnen die Stadtbewohner nicht mit dem gleichen Misstrauen wie die Bewohner Würzburgs, aber wo immer sie auftauchten, war die Begeisterung verhalten, jedenfalls stand sie in keinem Vergleich zur verzückten Aufgeregtheit, die das Erscheinen des Große Rudolfo in früheren Tagen ausgelöst hatte. Man hatte andere Sorgen.
Was Magdalena betraf, befand sie sich in einem Zustand, der sie an ihre Kindheit erinnerte, als sie einmal giftige Pilze gegessen hatte. Es bereitete ihr Schwierigkeiten, sich im Hier und Jetzt zurechtzufinden. An manchen Tagen glaubte sie zu schweben, dann wurde sie von einem Taumel mitgerissen, ähnlich dem mancher Nonnen im Kloster Seligenpforten, wenn sie während der Liturgie der Karwoche in brunftige Rufe ausbrachen: »Hier bin ich, Herr Jesus! Nimm mich!« Magdalena hatte solche Vorkommnisse stets als Theater abgetan. Jetzt sah sie das anders.
Die Schmeicheleien des Großen Rudolfo, der sich ihr näherte, ohne sie zu bedrängen, steigerten ihre Achtung gegenüber dem großen Seiltänzer, ja, sogar ihre Zuneigung zu dem feinfühligen Mann mit jedem Tag. In Augenblicken, in denen sie zu schweben glaubte –immer dann, wenn sie ihm nahe war –, empfand sie ein Gefühl, das sie bisher nicht
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