Die Frau des Seiltaenzers
Geld auf den Tisch geworfen.
»Tausend Golddukaten, wenn Ihr mir den Ort und die Stelle verratet, an der die neun Bücher aufbewahrt werden. Und – wenn Ihr mir gleichzeitig Euer Vermächtnis übertragt.«
»Das heißt, Ihr wollt einer der Neun Unsichtbaren werden.«
»Gewiss.«
»Aber ich lebe noch! Zwar kennt Ihr aus unerfindlichen Gründen das Bündnis, als wärt Ihr einer der Neun Unsichtbaren, dennoch scheint Euch entgangen zu sein, dass einer den Platz desanderen nur nach dessen Ableben einnehmen kann. Und auch wenn ich beinahe täglich Kopf und Kragen riskiere, habe ich nicht vor, mein Leben in nächster Zeit zu beschließen.«
»Wo denkt Ihr hin, Großer Rudolfo! Nichts liegt mir ferner, als Euch den Tod zu wünschen. Ihr sollt mich nur zum Mitwisser machen, zum Zehnten in Eurer Runde, zum Decimus – wie wir Lateiner sagen.«
Da wurde Rudolfo aufbrausend. Es hörte sich an, als fahre er dem Unbekannten an die Gurgel, und Magdalena bekam es mit der Angst zu tun. Sie fürchtete, Zeuge eines Mordes zu werden. Zitternd faltete sie die Hände und presste sie gegen die Stirne.
»Verschwinde«, rief Rudolfo in höchster Erregung, »verschwinde und lass dich hier nie wieder blicken! Sonst …«
»Sonst?«
Dann war es wieder still, unheimlich still. Magdalena kam es vor wie eine Ewigkeit. Plötzlich wurde die Türe aufgestoßen, und der schwarz gekleidete Fremde stolperte aus dem Gauklerwagen. Rufend wandte er sich noch einmal um: »Für den Fall, dass Ihr doch noch Eure Meinung ändert: Ihr findet mich morgen um dieselbe Zeit an der Weggabelung in Richtung Miltenberg, gerade mal eine Meile von hier. Dort ist ein Hochsitz für die Jagd, von dem man bei Vollmond die Mainauen überblicken kann. Lasst Euch die Angelegenheit noch einmal durch den Kopf gehen und denkt daran: tausend Golddukaten!«
Seine letzten Worte waren kaum zu verstehen, denn der rätselhafte Fremde begann zu laufen, dass sein Umhang flatterte wie ein Segel im Wind. Und ehe sich Magdalena versah, hatte ihn das fahle Mondlicht verschluckt wie eine überirdische Erscheinung, die sich in Luft auflöst.
Magdalena war viel zu aufgeregt, um sich in ihre Schlafstätte zu begeben. Gedankenfetzen schossen ihr wie Blitze eines Gewitters durch den Kopf: Neun Unsichtbare – und ein geheimnisvoller Schatz – und neun Bücher, für die der Fremde tausendGolddukaten zu zahlen bereit war. Vor allem aber hatte sich die Zauberformel – wenn auch bruchstückhaft – in ihrem Kopf festgesetzt: Satan … Adama … Amada … Mit dieser Formel hatte sich der Fremde zu erkennen gegeben oder jedenfalls Zugang zu Rudolfo gefunden. Der Code eines Geheimbundes oder eine Teufelsbeschwörung?
Als sie in Würzburg zum ersten Mal gesehen hatte, wie Rudolfo über das Seil ging, da hatte Magdalena den Eindruck gehabt, als sei er ein anderer. Sein starrer Blick, der mechanische Ablauf seiner Bewegungen und die provozierende Sicherheit seines Auftretens hatten in ihr den Verdacht geschürt, Rudolfo sei vom Teufel besessen. Mit jenem Rudolfo, den sie in den letzten Tagen nächtens kennengelernt hatte, hatte der Seiltänzer Rudolfo nichts gemein. Satan … Adama … Amada …
Ihre bescheidenen Lateinkenntnisse, die jedoch jene der meisten Pfaffen in den Schatten stellten, die nicht viel mehr kannten als das Dominus vobiscum, genügten für die Feststellung, dass diese Formel kein Latein war, viel eher die Teufelsbeschwörung einer geheimnisvollen Bruderschaft. Unter einem Ahornbaum ließ sich Magdalena nieder und dachte nach.
Die Nacht war warm, und von den Bäumen, die den schlängelnden Flusslauf säumten, hörte man den einsilbigen Ruf eines Käuzchens. Vergeblich versuchte sie ihre trüben Gedanken an Teufel und Hölle zu verdrängen und erhebenden, sogar sündhaften Gedanken an das andere Geschlecht Raum zu geben. Weit kam sie dabei nicht. Immer wieder trat Rudolfo vor sie hin, mit stechenden Augen, denen sie kaum standhalten konnte.
Am östlichen Himmel graute der Morgen, als Magdalena gedankenversunken zum Lager der Gaukler zurückkehrte. Schlafen wollte sie nicht mehr, obwohl es in ihrer Situation vielleicht das Beste gewesen wäre. Verschämt ging sie Melchior aus dem Weg, mit dem sie noch immer das Nachtlager teilte.
Für ihr weiteres Vorgehen hatte sich Magdalena folgenden Planzurechtgelegt: Sie war sicher, Rudolfo würde sich trotz seiner ablehnenden Haltung in der folgenden Nacht mit dem rätselhaften Fremden treffen. Um mehr von Rudolfos geheimen
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