Die Frau des Seiltaenzers
Mainbrücke her, wo vier Lakaien, geleitet von einer Vielzahl Hellebardenträger und Würdenträger der hohen Geistlichkeit, den ganz in Purpur gekleideten Gnädigen Herrn Bischof Konrad auf einem Tragestuhl herbeischleppten. Der wohlbeleibte Gnädige Herr winkte abwechselnd huldvoll nach links und rechts den wenigen verstreuten Menschen zu, die die Neugierde auf die Straße getrieben hatte, und segnete dieselben mit behandschuhten Händen, die ein protziger Rubinring schmückte.
Am Ende der Domstraße gesellte sich ein ebenso großer und farbenprächtiger Zug der Dompröpste hinzu, welche, die Hände in den Ärmeln verborgen, zum roten Talar weiße Chorröcke trugen, als wollten sie damit ihre Sittenstrenge und Heiligkeit noch unterstreichen. Zusammengenommen mochten es wohl fünf Dutzend Würdenträger gewesen sein, die sich um den auf der Straße verankerten Gauklerwagen scharten, von dem sich das Hochseil zur Spitze des vorderen Domturmes spannte. Darüber hinaus war keine Menschenseele zu erblicken, weder vor dem Dom noch auf der Domstraße, wo die Bühne der Menagerie, die Podeste für den Quacksalber und den Jongleur und die Bude der Wahrsagerin Xeranthe aufgebaut waren. Auch die letzten Neugierigen waren verschwunden. Mangels Publikums entschlossen sich deshalb die Gaukler, den Großen Rudolfo zu seinem Auftritt zu begleiten und mit Applaus nicht zu sparen.
Als der Seiltänzer weiß gekleidet aus seinem Gauklerwagen trat, wirkte er ernst und gefasst, jedenfalls nicht so, als sei dies einer von Hunderten Balanceakten, die er in seinem Gauklerleben schon absolviert hatte. Während sein Blick Magdalena streifte, wirkte er abwesend. Sie wusste nicht einmal, ob er sie überhaupt wahrgenommen hatte. Kein Wunder, dachte sie, bei meiner Maskerade.
Weder Magdalena noch Melchior hatten Rudolfo je auf dem Seil gesehen. Deshalb kam ihnen die ungewöhnliche Situation gerade recht. Mit den anderen Gauklern nahmen sie hinter den Dompröpsten Aufstellung. Diese, vor allem aber der beleibte Bischof Konrad, zeigten sich beunruhigt und wandten die Köpfe nach allen Seiten, weil ihr Plan nicht aufzugehen schien und die Würzburger in ihren Häusern blieben wie in Zeiten der Pest.
Wie gebannt verfolgte Magdalena jede Bewegung des Großen Rudolfo. Katzenhaft und ohne den wenigen Zuschauern Beachtung zu schenken, sprang er auf ein Weinfass rechts neben dem Seil, folgte mit den Augen dem Lauf der Leine bis zum Turmfenster und wieder zurück, atmete mehrmals tief ein, dass sich sein Brustkorb blähte wie der Hals eines Truthahns, und setzte behutsam erst den linken, dann den rechten Fuß auf das Hochseil.
Ohne festen Boden unter den Füßen wirkten seine Bewegungen fahrig und heftig. Rudolfo hatte noch keinen Schritt getan, aber es schien, als vollführe er mit angewinkelten Armen einen Kampf gegen die Schwerkraft. Wie wild gestikulierend und an der Hüfte einknickend, tanzte er einen Veitstanz wie die Tanzwütigen, welche entseelt durch die Straßen der Städte zogen.
»Warum geht er nicht?«, raunte Magdalena Melchior zu. »Was hat er nur?«
Melchior legte stumm eine Hand auf ihren Unterarm, als wollte er sagen: Geduld, der Große Rudolfo weiß schon, was er tut!
Es dauerte keine Minute, doch Magdalena kam es vor wir eine Ewigkeit, da hielt Rudolfo kurz inne, blickte noch einmal, mit den Armen wedelnd, nach oben auf sein luftiges Ziel und begann zu laufen. Ja, er lief, als sei der Teufel hinter ihm her, auf dem Seil bergan, nunmehr ohne die abgehackten Armbewegungen, eher, als gebrauchte er seine Arme wie Flügel.
Der wohlbeleibte Bischof und seine Dompröpste verfolgten das Spektakel misstrauisch, im Übrigen ohne Regung. Man konnte meinen, Neid hätte aus ihrer Haltung gesprochen, weil der Herr Jesusbei allen Kunststücken, die das Neue Testament aufführt, zwar über das Wasser, aber nie auf einem Seil gegangen war.
Nur so ist zu erklären, warum sich keine Hand rührte, als Rudolfo, oben angekommen, sich mit der Linken am steinernen Fensterkreuz festhielt und mit der Rechten Beifall heischend grüßte. Einzig der Riese von Ravenna ließ sich zaghaft zu einem Händeklatschen hinreißen, das er jedoch sofort abbrach, als der Bischof ihm einen unwilligen Blick zuwarf. Am Abstieg des Seiltänzers, dem weitaus schwierigeren Teil der Darbietung, weil der Akteur sein Ziel nicht vor Augen hatte, waren der Mann in Purpur und seine Gefolgsleute nicht mehr interessiert. Bischof Konrad gab seinen Lakaien das Zeichen zum
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