Die Frau des Seiltaenzers
Verbindungen in Erfahrung zu bringen, wollte sie ihn an der Weggabelung erwarten und das Gespräch heimlich belauschen.
Lange vor Mitternacht machte sich Magdalena tags darauf auf den Weg. Der Hochsitz, den der Fremde genannt hatte, war von Jungholz umgeben, das im Mondschein zaghafte Schatten warf und Magdalena ein sicheres Versteck bot.
Es musste wohl kurz vor der Mitternachtsstunde sein, da näherte sich von Norden eine Laterne, zappelnd wie ein Glühwürmchen. Im Näherkommen wurde die Funzel heller und stärker, bis sie, am vereinbarten Treffpunkt angekommen, jenen Mann im schwarzen Umhang zu erkennen gab, dem sie in der Nacht zuvor begegnet war. Der Unbekannte erklomm die Leiter zum Hochsitz, und Magdalena musste sich ducken, damit sie nicht in sein Blickfeld geriet.
Es war nicht einfach, reglos zu verharren, doch nötig, denn jedes Rascheln im Gebüsch, jedes Knacken eines Astes am Boden hätte sie in der tiefen Stille verraten. Magdalena vernahm den schweren Atem des Unbekannten. Sie selbst atmete nur kurz und durch den geöffneten Mund. Wie lange, dachte sie, wirst du das aushalten?
Die Zeit dehnte sich ins Unendliche. Wo blieb Rudolfo? Längst war Mitternacht vorbei, und Magdalena wünschte nichts sehnlicher, als einmal tief durchzuatmen, ihre Lungen mit der Waldluft voll zu saugen; aber sie hatte Angst sich zu verraten. Den Fremden fest im Blick, harrte sie regungslos aus. Was Rudolfos Absichten betraf, hatte sie sich offenbar getäuscht. Wie lange würde der fremde Mann auf seinem Hochsitz warten?
Von einem Augenblick auf den anderen fasste Magdalena einen gewagten Entschluss: Sie erhob sich, machte ein paar Schritte nach vorne und rief leise, als sei sie eben erst angekommen: »Ist da jemand?«
Der Mann auf dem Hochsitz schien verblüfft. Vielleicht hatte er halb schlafend vor sich hin gedöst, jedenfalls griff er in Panik nach seiner Laterne und leuchtete nach unten.
Verwirrt vom Anblick einer Frau, kletterte er umständlich abwärts, indem er jeweils nur eine Stufe nahm und das andere Bein nachzog. Unten angelangt, hielt er Magdalena seine Funzel vors Gesicht.
»Euch hätte ich hier zuallerletzt erwartet«, knurrte er mit seiner tiefen Stimme. »Ihr seid doch …«
»Ganz recht«, erwiderte Magdalena, ohne zu zögern. »Wir sind uns in der vergangenen Nacht auf der Treppe von Rudolfos Gauklerwagen begegnet.«
Magdalenas forsches Auftreten, erstaunte den Unbekannten. Aber das war durchaus beabsichtigt. Dass es so einfach war, einen Mann, vor dem sie selbst Angst hatte, so stark zu verunsichern, überraschte sie und sollte für ihr weiteres Leben nicht ohne Bedeutung sein.
»Dann seid Ihr also die Buhle des Großen Rudolfo?«
»Ach, nennt mich, wie Ihr wollt!«
»Verzeiht, es ist doch keine Schande, wenn der Große Rudolfo einem Weib den Hof macht. Aber warum kommt Rudolfo nicht selbst?«
Der Fremde hängte die Laterne an der Leiter des Hochsitzes auf, und mit einer einladenden Handbewegung deutete er an, Magdalena solle sich auf dem Boden niederlassen. Er selbst nahm ebenfalls Platz, und zum ersten Mal hatte Magdalena Gelegenheit, den rätselhaften Mann näher in Augenschein zu nehmen.
Als stellte er sich auf eine längere Unterredung ein, öffnete er die Schließe seines Umhangs und warf diesen mit einer eleganten Bewegung ins Gras. Die Kleidung, welche darunter zum Vorschein kam, ließ selbst im spärlichen Laternenlicht eine gewisse Vornehmheit erkennen. Das minderte Magdalenas Beklemmung erheblich, die seine Erscheinung bei ihrer ersten Begegnung ausgelöst hatte.
»Rudolfo weiß nicht, dass ich hier bin«, beantwortete sie seine Frage.
Der Mann sah sie erstaunt an, als misstraute er ihren Worten. Aber dann meinte er: »Umso besser. Dann können wir beide uns ganz unvoreingenommen unterhalten. Vielleicht gelingt es Euch, den Großen Rudolfo von meinen lauteren Absichten zu überzeugen. Gewiss hat Euch der Seiltänzer davon erzählt?«
Auf diese Frage war Magdalena überhaupt nicht gefasst, und die Andeutungen, wie das Gespräch verlaufen würde, versetzten sie in Unruhe. Schließlich hob sie die Schultern und blickte verlegen zur Seite. »Ich kenne ja nicht einmal Euren Namen«, bemerkte sie verschnupft.
»Das hat Zeit. Wichtiger ist, was ich Euch zu sagen habe. Hört zu. Ich zählte von Anfang an zu den Bewunderern des Großen Rudolfo. Aber von Anfang an war mir auch klar, dass es bei seiner Kunst, auf dem Seil die höchsten Türme zu besteigen, nicht mit rechten Dingen
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