Die Frau des Seiltaenzers
zugeht.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«, unterbrach Magdalena aufgeregt seine Rede. »Jeder kann sehen, wie leicht und behände Rudolfo auf dem Seil tanzt, und da wollt Ihr von Betrug sprechen?«
»Um Gottes willen, nichts liegt mir ferner. Von Betrug war keine Rede! Ich glaube nur, dass sich der Große Rudolfo gewisser Fähigkeiten bedient, die zwar jedem Menschen innewohnen, deren Erweckung jedoch gewisser Erkenntnisse bedarf. Begreift Ihr, was ich meine?«
»Nein!«, erwiderte Magdalena frei heraus.
Der Mann im Halbdunkel machte ein ungläubiges Gesicht. »Ihr teilt mit ihm das Bett und wollt mir weismachen, dass Euch der Große Rudolfo noch nicht in dieses sein Geheimnis eingeweiht hat?«
Magdalena schüttelte den Kopf und tat, als würde sie die Aussage wenig berühren. In Wahrheit fieberte sie danach, mehr über Rudolfos Geheimnis zu erfahren. Denn dass sich hinter Rudolfos Kunst ein Mysterium verbarg, davon war auch sie inzwischen überzeugt.
Der Unbekannte beugte sich zu Magdalena herüber, dass sie sein Gesicht zum ersten Mal aus der Nähe sehen konnte, die feinen, beinahe edlen Züge eines etwa vierzigjährigen Mannes, und sagte mit erhobenem Zeigefinger wie ein Schulmeister: »Seit tausend Jahren vertritt der Mensch die Ansicht, er sei mit fünf Sinnen ausgestattet. Er kann sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Dabei bringen bestimmte Reize der Außenwelt das Innere des Menschen in Erregung und bewirken bestimmte Reaktionen. Das wussten schon die alten Griechen. In Wahrheit hat der Mensch jedoch noch einen sechsten Sinn, einen siebenten oder achten, vielleicht sogar einen neunten. Es bedarf allerdings bestimmter Voraussetzungen, um sich dieser Sinne zu bedienen.«
»Ach«, bemerkte Magdalena spitz, »und was wäre ein solcher unbekannter Sinn?«
»Der Gleichgewichtssinn zum Beispiel! Ein Stock, den man ohne Stütze auf die Erde stellt, fällt um. Ein Mensch bleibt stehen, ohne zu straucheln. Warum? – Weil er von einem bestimmten Alter an in der Lage ist zu sagen: Ich bleibe stehen – und er bleibt stehen. Der Große Rudolfo kennt Mittel und Wege, seinem Gehirn den Befehl zu erteilen, ein dünnes Hanfseil als bequemen Pfad zu betrachten, der auf die Spitze eines Kirchturms führt. Ein Rätsel, das einer Lösung bedarf. Es sei denn …«
»Es sei denn?«
»Nun ja, es sei denn, das Mysterium ist bereits gelöst, aber seine Lösung nur einer kleinen Schar von Auserwählten zugänglich. Zum Beispiel den Neun Unsichtbaren.«
Magdalena erschrak. Bei der Unterredung zwischen Rudolfo und dem Namenlosen war von den Neun Unsichtbaren die Rede und davon, dass der Mann tausend Golddukaten bot, wenn Rudolfo ein bestimmtes Versteck geheimnisvoller Bücher preisgäbe.
»Und Ihr glaubt, der Große Rudolfo sei einer von diesen Neun Unsichtbaren«, bemerkte sie entrüstet.
Auf der Stirne des Unbekannten bildete sich eine Zornesfalte.»Ich glaube es nicht, denn glauben heißt nicht wissen. Ich weiß es!«
»Und woher wollt Ihr das wissen, wenn die Mitgliedschaft und alle Umstände dieser Bruderschaft so geheim sind?«
»Ihr erwartet doch nicht, dass ich auf diese ungebührliche Frage antworte.«
»Verzeiht, ich wollte Euch nicht zu nahe treten. Aber Eure Aussage kam für mich zu überraschend. Ich bin völlig durcheinander. Rudolfo einer der Neun Unsichtbaren? Ein Magier? Ein Schwarzkünstler? Vielleicht sogar ein Nigromant und mit dem Teufel im Bunde?«
Magdalena knetete ihre Hände, als wollte sie die Wahrheit aus ihnen herauswringen, erst die linke mit der rechten, dann die rechte Hand mit der linken.
»Und wenn ich Euch recht verstehe, wollt Ihr Rudolfos Mitgliedschaft in diesem Geheimbund beerben. Was in aller Welt veranlasst Euch, dafür eine so hohe Summe zu bieten?«
Der Unbekannte machte eine abwehrende Handbewegung: »Ich will nicht unbedingt einer der Neun Unsichtbaren werden. Ich will nur in den Besitz der neun geheimen Bücher gelangen!«
»Und warum wendet Ihr Euch ausgerechnet an den Großen Rudolfo? Offensichtlich gibt es doch noch acht weitere Mitglieder dieser Bruderschaft!«
»Keiner kennt sie.«
»Also sind sie sich selbst ein Geheimnis?«
»So ist es. Niemand kann mit Gewissheit behaupten, den Namen eines der Neun Unsichtbaren zu kennen. Doch der Große Rudolfo hat sich selbst verraten. Fragt mich nicht wodurch, ich werde es Euch nicht sagen.«
»Dann seid Ihr wohl selbst so ein Schwarzkünstler?«
Der geheimnisvolle Mann schmunzelte vor sich hin. Doch plötzlich
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