Die Frau des Seiltaenzers
begriff, was der Seiltänzer ihr zu erklären bereit war. Schließlich meinte sie vorsichtig fragend: »Hat das etwas mit deiner Mitgliedschaft im Bündnis der Neun Unsichtbaren zu tun? Der Unbekannte machte mir gegenüber so eine Andeutung.«
»Eine Andeutung?«
»Eine Andeutung, nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich diesem Menschen Glauben schenken soll oder ob er nur einer von diesen Großsprechern ist, welche zuhauf herumlaufen. Also bist du nun einer der Neun Unsichtbaren, und was hat es mit diesen Neun für eine Bewandtnis?«
Rudolfo schüttelte den Kopf: »Ich habe einen heiligen Eid geschworen und mache mich selbst zum Freiwild, wenn ich diesen Eid breche. Ich darf mich dir nicht offenbaren. Es sei denn …«
Magdalena musterte ihn mit eindringlichem Blick. Jetzt war sie es, die fragen wollte, ob er ihr so wenig vertraute; doch sie tat es nicht. Sie sah Rudolfo nur mit großen, fragenden Augen an.
»Was heißt das, du machst dich zum Freiwild?«, meinte sie schließlich. »Ich will es wissen. Wenn dir an mir gelegen ist, beantworte mir meine Frage. Wenn nicht, dann lass es bleiben. Kannst du nicht begreifen, dass ich mir Sorgen um dich mache?«
Rudolfo schloss die Augen. Er hielt sie lange geschlossen, als habe er einen Vorhang vor sich gezogen, doch seine Augenlider zuckten und verrieten, wie sehr es in ihm arbeitete. Als er die Augen wieder öffnete, schien er wie befreit. Er sprang auf, als hätte er einenschweren Entschluss gefasst und empfinde nun unendliche Erleichterung darüber. Magdalena glaubte sogar, auf seinen Lippen ein zaghaftes Lächeln zu erkennen. Sie hoffte gar, er würde sie in die Arme nehmen, ihr einen Kuss auf die Stirne drücken und etwas ins Ohr flüstern, aber es kam anders. Der Seiltänzer griff zu einem Rötel und begann einzelne Buchstaben auf die Truhe zu kritzeln, auf der er saß.
Nach fünf Buchstaben hielt er inne.
Magdalena kniete sich neben Rudolfo nieder und las: SATAN. Sie zuckte zusammen, wie von einem Peitschenhieb getroffen.
Rudolfo schien sich nicht daran zu stören. Mit ruhiger Hand schrieb er ein zweites Wort unter das erste: ADAMA. Darunter ein drittes: TABAT. Darunter ein viertes: AMADA. Und schließlich: NATAS, sodass schließlich fünf Wörter mit je fünf Buchstaben untereinanderstanden:
SATAN
ADAMA
TABAT
AMADA
NATAS
Da waren sie wieder: die fünf Wörter, die ihr nicht aus dem Kopf gingen, seit der Unbekannte nachts an Rudolfos Türe geklopft hatte. »Gebrauchte der Fremde nicht dieselben Wörter?«, fragte sie vorsichtig.
»Es ist die Formel, mit der sich die Neun Unsichtbaren untereinander zu erkennen geben.«
»Also zählt der Fremde doch zu den Neun Unsichtbaren!«
»Sicher nicht. Sonst hätte er mir nicht so viel Geld für das Versteck der geheimen Bücher geboten. Dabei ist es ihm längst bekannt. Er ahnt es nur nicht. So, wie auch die Schätze der Weisheit über die ganze Erde verteilt sind – aber die Menschen ahnen es nicht.«
»Und in den Büchern sind all die Geheimnisse verzeichnet?«
»Seit vielen Jahrhunderten.«
»Und dies« – Magdalena deutete auf die Buchstaben auf der Bank – »dies ist keine Teufelsbeschwörung?«
»Das ist pure Magie, die nur Eingeweihte verstehen. Mit dem Teufel hat das so wenig zu tun wie der Heilige Geist mit der Vaterschaft des Herrn Jesus.«
Als er sah, wie Magdalena auf das magische Quadrat starrte, sichtlich bemüht, den 25 Buchstaben einen Sinn zu geben, räusperte sich Rudolfo gekünstelt und meinte schließlich: »Lies die einzelnen Buchstaben von oben nach unten.«
Magdalena staunte: »Das ergibt dieselben Wörter wie von links nach rechts.«
»Und jetzt lies die Buchstaben von rechts unten nach oben!«
»Wieder dasselbe Ergebnis.«
»Und jetzt rechts unten beginnend nach links wie die Juden.«
»Mein Gott, auch dann kommt man zu keinem anderen Ergebnis: Satan Adama Tabat Amada Natas.«
»Du siehst: Hinter scheinbar harmlosen Worten verbirgt sich ein geheimnisvolles System. Der Uneingeweihte bemerkt es nicht, der Eingeweihte jedoch weiß viel damit anzufangen.«
Rudolfo spuckte auf die Rötelschrift, wischte mit der flachen Hand über die Buchstaben, und sie verschwanden wie das Menetekel beim Gastmahl des babylonischen Königs Belsazar. Dann nahm er Magdalenas Hände zwischen die seinen und sprach leise, besorgt, ein ungewollter Lauscher könne sie belauschen: »Was ich dir gesagt habe, musst du umgehend vergessen, du musst es für alle Zeit aus deinem Gedächtnis streichen. Denn
Weitere Kostenlose Bücher