Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
einzige Spende gegeben. Doch als sein Gefährte ein paar Wochen später von einer Frau erzählt bekam, dass sich ihre große Spende gelohnt habe, denn ihr verschollen geglaubter Sohn sei gesund und reich aus Australien zurückgekehrt, erkundigte er sich nach der Spende. Der gierige Räuber versicherte, er habe die Frau nie gesehen, und um seinen Worten noch mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, rief er: »Ich schwöre bei Scheich Sanki, Gott hab ihn selig, dass ich keine Spende bekommen habe!«
»Scheich Sanki?«, brüllte der Betrogene zurück. »Scheich Sanki haben wir gemeinsam begraben.«
Auf dem Weg nach Hause sprachen wir, mein Vater und ich, über die Schätze, die langsam verlorengehen: Märchen, Legenden und Sprichwörter. »Wenn sie jemand sammeln würde«, sagte mein Vater, kurz bevor wir in unsere Gasse einbogen, »könnte er sich nicht nur eine goldene Nase verdienen. Er würde außerdem als Held verehrt, so wie der heilige Georgios, der die Königstochter vor dem Drachen gerettet hat. Im Grunde ist das nur ein Symbol: Die Königstochter ist die junge Kirche und der Drache ist die Gewalt des heidnischen Römischen Reiches, mit der die Frühchristen verfolgt und ermordet wurden. Mit Tausenden von tapferen Frauen und Männern hat Georgios als Märtyrer in Palästina die junge Kirche groß gemacht, bis das Römische Reich vor ihr kapitulierte. Und so wird der Sammler die Weisheiten des Volkes vor dem Drachen des Vergessens schützen.«
Ich beschloss, Sprichwörter und Legenden, Märchen und Volkserzählungen zu sammeln und aufzubewahren, um ein Held wie der heilige Georgios zu werden. Damals hatte ich mich gerade in Mirjam, die Tochter des Uhrmachers Gabriel, verliebt. Sie war nicht nur hübsch, sondern hatte eine Zunge, die der meiner Mutter ähnelte. Und ich hatte nichts, womit ich protzen konnte. In Sport war ich eine Niete, an Geld fehlte es mir unentwegt, und meine Kleider waren vom Billigsten. Zu bieten hatte ich nur eins: Ich las viel, aber das zählte nicht. Nun dachte ich, der Augenblick sei gekommen. Ich wollte ein Buch schreiben. Der Titel stand schon fest:»Hinter jedem Sprichwort lauert eine Geschichte«. Ich kalligraphierte ihn besonders sorgfältig, und als ich die Geschichte von »Scheich Sanki« in schöner Schrift aufschrieb, füllten sich vier Seiten. Also, dachte ich, der Friseur ist grässlich, aber nach dreißig Friseurbesuchen werde ich ein richtiges Buch zusammenhaben.
Doch es sollte anders kommen.
Mein zweiter Besuch beim Friseur war mein letzter. Und auch das hat eine Geschichte.
Wer den Leimpinsel nicht gespürt hat,
der weiß nichts vom Geschehen
Schwere Wolken hingen über Damaskus, dennoch ging ich bestens gelaunt aus dem Haus. Endlich konnte ich den Regenschirm gebrauchen, der bei uns seit Jahren nur als Staubfänger diente und ansonsten arbeitslos war. Wann regnete es schon in Damaskus! Jetzt aber wurde der Regen mit jedem Schritt stärker, und ich amüsierte mich auf dem Weg über die vorbeihuschenden Passanten. Alle waren noch in sommerlicher Kleidung unterwegs, denn im September regnete es in Damaskus höchstens einmal im Jahrhundert.
Als ich den Laden erreichte, machte der Friseur gerade seinen Lehrling zur Schnecke und jagte ihn zum Teufel. Dieser gehorchte jammernd und trat ohne Schirm und Jacke in den Regen hinaus. Der Friseur triumphierte wie ein Gockel.
Als einer der Männer ihn fragte, wie er es geschafft habe, den störrischen Mitarbeiter in den Regen zu schicken, antwortete der Friseur: »Wer den Leimpinsel nicht gespürt hat, der weiß nichts vom Geschehen.«
Mir war dieses Sprichwort durchaus vertraut. Es geht zurück auf den heißen Leim, der aus Rinderknochen gewonnen wird. Möbelbauer und Tischler haben ihn bis in die siebziger Jahre hinein verwendet, Geigenbauer tun dies noch heute. Der Leim wird im kochenden Wasserbad heißgehalten und als dicke Flüssigkeit aufgetragen. Beim Erkalten erstarrt er zu einer harten Masse.
In dem Sprichwort wird eine schlimme Strafe angedroht, die allerdings getarnt ist. Wer ahnt schon, dass hinter dem Wort Leimpinsel eine schreckliche Geschichte steckt!
Ich bat ihn, mir die Geschichte dieses Sprichworts zu erzählen. Er lachte, klapperte ein paarmal mit seiner Solinger Schere und sagte: »Also gut. Ein alter Löwe mahnte kurz vor seinem Tod seinen Sohn, sich vor dem Menschen in Acht zu nehmen, der das allergewalttätigste Tier der Erde ist.
›Und wo lebt dieses Tier?‹, fragte der junge Löwe
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