Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
verdeutlichen: Mögen in einem europäischen Märchen alle Motive, Bilder, Träume und Wünsche allgemeine Gültigkeit besitzen (Archetypen), wenn aber ein Bild, ein Satz, eine Ironie, bedingt durch die Politik, gegen die Würde eines muslimischen Menschen verstoßen, so verschließen sich Herzen und Köpfe einer Milliarde Menschen gegenüber diesem Märchen. Das gilt genauso für Märchen, in denen Frauen verachtet werden. Und durch die schnelle Kommunikation artikuliert sich die Ablehnung heute viel schneller als vor fünfzig Jahren. Das alles trägt zur Wirkung eines Märchens, eines Kunstwerks bei.
So kompliziert ist ein Märchen. Fast so kompliziert wie sein Erfinder: der Mensch.
EIN WORT ZUM ABSCHIED
Wenn Sie jemanden hören, der Märchenerzähler hochnäsig lächerlich macht, sei es mit Ausdrücken wie »Märchenonkel« oder »Erzähl mir doch kein Märchen«, so haben Sie Mitleid mit ihm. Er ist entweder ein Dummkopf oder ein unbedarfter Ignorant, der nichts weiß von dieser grandiosen und soliden Brücke der Menschheit.
Wer Märchen verachtet, ähnelt dem Dummkopf, der mich vor dreißig Jahren in einer Heidelberger Kneipe »Kameltreiber« nannte. Er war sprachlos, als ich mich fröhlich und bescheiden dafür bedankte: »Leider ist es für mich zu viel der Ehre. Ich beherrsche diese hohe Kunst nicht. Ein Kamel durch die Wüste zu treiben, ist so kompliziert wie die große Kunst der Aquarellmalerei. Dagegen sind Pferde, Maultiere und Esel fromme Lämmer.«
»Dann bist du eben kein Kameltreiber«, sagte der Mann enttäuscht.
Rassisten gönnen einem auch gar nichts!
HINTER JEDEM SPRICHWORT LAUERT EINE GESCHICHTE
»Ein Sprichwort ist ein kurzer Satz, der sich auf lange Erfahrung gründet.«
Miguel de Cervantes Saavedra
»Sprichwörter sind Romane des armen Volkes.«
Anonymus
Araber sind süchtig nach Sprichwörtern. Ihre Gespräche sind gespickt davon, und sie setzen sie ein, als wären es Hilfestellungen eines unsichtbaren Weisen, der ihre Meinung untermauert. Sprichwörter müssen knapp formuliert und eingängig sein. Daher sind sie oft in Reimform gehalten. Sprichwörter sind für den Augenblick geschaffen, können jedoch lange leben. Aber sie sind nicht geeignet, in Versuchsreihen und Prüfungen zu bestehen. Und sie fürchten sich nicht vor Widersprüchen. »Gleich und gleich gesellt sich gern«, heißt es etwa und genauso: »Gegensätze ziehen sich an.« Das soll nur bedeuten, dass der Mensch, Quelle aller Sprichwörter, selbst widersprüchlich ist und sich nicht in Statistiken erfassen lässt.
Sprichwörter wurden über lange Zeiten hinweg mündlich tradiert und später auch schriftlich fixiert. Sie spiegeln Sitten, Träume, Moralvorstellungen, Ängste, Freuden und Schmerzen eines Volkes wider. Die Quelle der Sprichwörter ist nicht etwa die Bibel. Im Gegenteil, die anonymen Schreiber der Bibel griffen auf, was bereits jahrtausendelange tradiert worden war. Die Quelle der Sprichwörter ist in der Seele eines Volkes zu finden, dem Konzentrat seiner Erfahrungen. Nicht selten aber sind die Ereignisse und Geschichten, aus denen viele Sprichwörter hervorgingen, inzwischen verloren.
Mein Vater kannte einen Friseur, der für viele Sprichwörter eine Geschichte parat hatte. Er war altmodisch, und sein Salon war nicht gerade einladend, aber der Mann stand unbeirrt in seinem weißen Kittel da, als wäre er der Privatfriseur des Sultans. Einmal begleitete ich meinen Vater. Er setzte sich, als er an der Reihe war, auf den Frisierstuhl und sagte: »Ich nehme deinen Haarschnitt in Kauf und zahle sogar dafür, wenn du meinem Sohn eine der vielen Geschichten erzählst, die du kennst. Er liebt Geschichten.«
»Gut«, sagte der Friseur, nicht im geringsten beleidigt angesichts der Herabwürdigung seiner Frisierkunst. »Wenn du heute ein Sprichwort hörst, während ich diesen Wildwuchs auf dem Kopf deines Vaters mit meiner ›Solinger‹ kultiviere, dann frage mich danach. Vielleicht kenne ich eine Geschichte dazu«, sagte er und klapperte mit der Schere, auf die er stolz war. Darauf stand Made in Germany und Solingen, und das hielten viele für eine Marke, auch mein Vater, der eine solche Schere für seinen Schnurrbart benutzte.
Ich blätterte in Zeitschriften, die auf dem Tisch lagen, und lauschte dem Gespräch, das der Friseur mit fünf, sechs Männern führte, während er die Haare meines Vaters schnitt. Drei-, viermal rief mein Vater entsetzt: »Pass doch auf, du schneidest mir noch das Ohr
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