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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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Wilhelm Grimm sprach im Zusammenhang mit der weiten Verbreitung von Märchen von ›einem tiefen Brunnen, dessen Tiefe man nicht kennt, aus dem aber jeder nach seinem Bedürfnis schöpft‹.« Die Symbolik des Märchens erlaubt Deutungen, durchaus verschiedenartige Deutungen – aber das Symbol selbst »bleibt letztlich jeder Deutung überlegen«.
    Aus diesem Sachverhalt rührt das Unbehagen an allen »systematischen Deutungen der Märchen, also an Interpretationen, welche die Märchen als Beleg für ein bestimmtes System verstehen. Eine solche einseitige Ausrichtung kann zwar hilfreich sein, weil sie auf Deutungsmöglichkeiten aufmerksam macht; aber wird sie verabsolutiert zur einzig möglichen Deutung, so wird die Geschichte selbst verraten. In diese Kritik ist das anthroposophische System der Einweihungs- und Entwicklungsstufen ebenso einzubeziehen wie ein (von der Lebenswirklichkeit der Analysanden abgehobenes) allgemeines psychoanalytisches System unbewusster Prozesse«.
    Wir wissen wohl, dass das Märchen durch das Nacherzählen immer weiter verändert wurde. Jede historische Epoche hat ihre Fingerabdrücke auf den Märchen hinterlassen, und auch innerhalb einer Epoche entstanden jenach Region aus einem Märchen mehrere Varianten. Die Menschen (und zwar eher die Angehörigen der Unterschichten) veränderten die Märchen nach ihren Bedürfnissen. Am deutlichsten können wir das beobachten, wenn wir sehr alte Märchen und Mythen lesen, die gerade von Archäologen entdeckt wurden. Sie wirken fremd, spröde, die Handlung springt abrupt, nicht weil sie schlecht erzählt wurden, sondern weil sie nicht für unsere Ohren bestimmt und bearbeitet wurden. Dieses Rundschleifen der Jahrtausende macht es möglich, dass wir Sindbads oder Odysseus’ Abenteuer so leicht verstehen und spannend finden.
    Rotkäppchen hat unzählige Variationen erfahren, und sie sind bestimmt nicht alle durch psychologische Gesichtspunkte zu erklären.
    Das kommt daher, dass das Märchen, als eine der ältesten Erzählgattungen, mündliche Wurzeln hat. Es ging mit seinen mündlichen Erzählerinnen und Erzählern auf die Wanderschaft und wurde von den Völkern verstanden. Die Suche nach Glück, Liebe, Anerkennung, Wahrheit und Vollkommenheit ist allen Kulturen damals wie heute bekannt. Auch empfinden alle Menschen und erleben auf die gleiche Weise Angst, Freude, Hunger, Krankheit, Ehrlichkeit, Lüge, Lachen, Weinen, Kämpfen, Alleinsein, Liebe und Hass. Es gibt kaum ein Volk, das sich über Hunger und Tod freut.
    Unterschiede bestehen in der Form, wie wir das alles zum Ausdruck bringen. So sind Odysseus’ und Sindbads Reisen großes Abenteurer, aber bei Sindbad ist immer die Hinreise interessant, die Rückreise wird kaum beschrieben. Bei Odysseus ist es umgekehrt. Aber es gibt keine Unterschiede im Empfinden. Ein kleines Beispiel soll das zeigen. Araber betrachten den Friedhof als einen Ort der Vernichtung.Aus der Wüste kommend, behielten sie die Vergänglichkeit auch bei der Gestaltung ihrer städtischen Friedhöfe vor Augen. Sie sind schlicht, unscheinbar und überhaupt nicht einladend. Man will den Tod so schnell es geht vergessen. Europäer dagegen pflegen ihre Friedhöfe so, als freuten sie sich über den Tod. Sie gehen sogar dort spazieren. Ist das aber nicht ein anderer Weg, die Angst vor dem Tod durch das geschmackvolle Ambiente vergessen zu machen? Araber weinen sich beim Tod eines ihrer Angehörigen die Seele aus dem Leib. Die Trauergäste weinen manchmal lauter als die betroffene Familie, so dass die Trauernden in der Gemeinschaft den Schmerz überleben, vergessen. Es gibt Familien, die sogar auf Nummer sicher gehen und professionelle Klageweiber holen, die das Mitleid so lange melken, bis kein Auge mehr trocken ist. Deutsche dagegen feiern mit der betroffenen Familie einen »Leichenschmaus«. Als ich das Wort kurz nach meiner Ankunft, ausgerüstet mit einem schlechten Wörterbuch, hörte, bekam ich einen Schreck. Ich dachte, die Deutschen würden die Leichen ihrer Angehörigen essen. Nein, die Gäste essen mit der trauernden Familie, sie stehen ihr bei und geben sich Mühe, sie ins Leben zurückzuholen.
    Das Unterscheidende kann, aber muss uns nicht trennen. Es kann uns manchmal sogar bereichern. Wir wissen auch, dass allzu große Ähnlichkeit zwischen Geschwistern, Völkern und Kulturen nicht selten zur Feindschaft führt. Dies alles kann die Erklärung mit dem »Unbewussten« nicht interpretieren. Ein harmloses Beispiel kann das

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