Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
erfuhr ich nicht beim Schreiben und nicht beim Recherchieren und auch nicht beim Erfolg mit den Büchern, sondern allein dann, wenn ich Leuten Geschichten erzählt habe.
IBN ARISTO ERKLÄRT DAS FASZINOSUM DER MÜNDLICHKEIT
Wenn du erlaubst, es ist nicht nur bei dir so. Dem Faszinosum der Mündlichkeit waren seit den Anfängen der menschlichen Kultur der Erzähler und seine Zuhörer erlegen. Die Griechen erhoben die Fähigkeit, vor einer Ansammlung von Menschen zu reden, sogar zu einer Kunst, der »Rhetorik«. Du weißt, mein Urgroßvater hat ein schönes Werk über die Rhetorik geschrieben. Was heute die Regel ist, galt jahrhundertelang als verpönt: Unter keinen Umständen durfte ein Redner seine Rede von einem Blatt Papier ablesen.
Und von Anfang an gehörte eine zweite komplementäre Kunst dazu: das Zuhören. Das Zuhören war damals eine der wichtigsten Wissensquellen, die weder Lesen noch Schreiben voraussetzt, dafür aber die Gabe der Konzentration und des guten Gedächtnisses.
In Bezug auf das Wissen über die Geschichten erscheint es mir angebracht, auf einen kuriosen Unterschied zwischen der mündlichen und schriftlichen Erzählkunst hinzuweisen. Im Mündlichen wie im Schriftlichen hat der Erzähler mit Sicherheit mehr Wissen über das, was er erzählen will, als alle seine Zuhörer bzw. Leser. Sie mögen ihm in allen anderen Bereichen über- oder unterlegen sein, aber die Erzählung ist seine Domäne. Aber nun kam es im Schriftlichen zu einer weiteren Überlegenheit. Hier konnte sogar eine Figur der Geschichte, wie etwa ein Detektiv, ein Kommissar oder ein Agent, mehr wissen als der Leser. Das hatte es in der mündlichen Tradition nie gegeben. Mochte der Held auch göttlich sein, er wusste nicht mehr als das, was er gerade machte. Er hatte charakteristische Merkmale, die der Zuhörer erkannte, war heldenhaft, feige, großzügig, geizig, abenteuerlich oder vorsichtig, aber seine Person war für die Zuhörer klar, fast gläsern, und hatte keine Geheimnisse. Ich kann dir …
Vielen Dank. Ich weiß, du kannst eine Menge erklären, aber lass mich fortfahren.
Ich war noch nicht einmal neunzehn und glaubte arglos, dass die Wahrheit mit ihrer Logik vernünftige Menschen überzeugen kann, und ich hielt jeden, der Bücher las, für vernünftig. »Werch ein illtum!«, würde Ernst Jandl ausrufen.
Als ich meine Meinung damals in Damaskus vertrat und die versammelten Intellektuellen und Literaten eines vornehmen Literaturclubs fast bebend vor Aufregung aufforderte, die Europäer nicht länger nachzuahmen – vor Aufregung habe ich damals »Europäer nicht länger zu belästigen« gesagt –, sondern vielmehr zu den Wurzeln zurückzugehen, da erlebte ich eine böse Überraschung.
Ich weiß es noch wie heute. Es war an einem kalten Novemberabend. Die Versammlung erstarrte, als ich für meine Verweigerung, die Europäer nachzuahmen, höflich um Verständnis bat. Erst als sich die Herren von ihrem Schock erholt hatten, brach der Unmut aus ihnen heraus. Sie krähten alle durcheinander. Ein Diener führte mich höflich, aber mit eiserner Hand aus dem Saal. Im Gang hörte ich noch das Gelächter der Männer.
IBN ARISTO ÜBER DIE ARABISCHE SIPPE
Wenn du erlaubst, erkläre ich dir, was dahintersteckt. Mit ihrem Lachen suchten die Männer verzweifelt den Schutz der Gemeinschaft, nachdem du ihnen ihre Schwachstelle gezeigt und damit als Störfaktor agiert hast. Diese Art von Schutz haftet der arabischen Kultur an. Sein Ursprung ist die Sippe, die wiederum durch die Wüste entstand. Die Sippe rettete die Araber vor der Wüste und versklavte sie zugleich. Sie bietet immer Schutz, aber der Preis dafür ist die Gesichtslosigkeit des einzelnen. Wer aus der Reihe tanzt, wird als Verräter betrachtet.
Das stimmt, vielen Dank für die Erklärung. Jedenfalls hatte irgendjemand die Anwesenden gebeten, nun die Diskussion über William Faulkner fortzusetzen. Ich war der Ohnmacht nahe. Mit bleiernen Füßen schlich ich mich ins Freie, suchte die frische Luft.
Ich setzte mich auf die eiskalten Stufen des vornehmen Hauses. Damaskus lag, was selten geschah, im Nebel. Da hörte ich den Lärm von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster, den ich aber kaum beachtete, denn damals gab es in meiner Stadt noch Kutschen. Doch plötzlich trat Don Quijote auf seinem Rocinante aus dem Nebel, und hinter ihm trippelte geräuschlos der Esel, auf dem Sancho saß.
»Weiter so, junger Ritter«, rief Don Quijote mir aus der Ferne zu.
Sancho Panza eilte
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