Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
seit damals traten die beiden Herren immer wieder bei mir auf, wenn der Zweifel an meiner Seele nagte. Der Zweifel war mein treuer Hund, und deshalb waren die Herren oft bei mir.
Einer der Gründe, warum mich sein Werk schon früh faszinierte, liegt in Cervantes’ Nähe zur mündlichen Erzählkunst. Und diese Kunst kannte ich noch viel früher als den Roman, als irgendeinen Roman. Es war meine Mutter, die mir die Liebe zum gesprochenen Wort nahebrachte.
IBN ARISTO ÜBER DIE BEDEUTUNG DES GESPROCHENEN WORTES IN DER ARABISCHEN KULTUR
Wenn ich deinen Zuhörern und Lesern Folgendes grob skizzieren darf: Die arabische Kultur hat weniger eine Bild-, dafür aber eine große Erzähltradition. Und das hat nichts mit dem Islam zu tun, sondern mit der Wüste, die das Auge ruhen und dafür die Zunge aktiv werden lässt. Bereits vor der Entstehung des Islam hatten die Araber im Gegensatz zu den Griechen und Römern kaum Bilder oder Skulpturen produziert. Andererseits konnte auch der Islam nicht verhindern, dass muslimische Perser die schönsten Miniaturen der Welt produzierten. Die arabische Erzähltradition wiederum reicht bis weit vor die Entstehung des Islam zurück, und sie wirkt bis heute, weil die Wüste die mündliche Form, den Klang der Worte, und nicht die schriftliche Form fördert. So findet man kaum arabische Wörter, die schwer auszusprechen sind. Als wäre jedes Wort durch die Hände eines Komponisten gegangen, der es auf die Musikalität der Aussprache hin überprüfte. Die Abfolgen der einzelnen Buchstaben enthalten kaum Dissonanzen (etwa die Folge T-D, D-T, S-SCH, H-CH, CH-H ).
Wie kaum eine andere Religion verstärkte der Islam das geschriebene Wort, aber wie in kaum einer anderen Sprache wirkte die Mündlichkeit so tief in die Schriftlichkeit hinein wie im Arabischen. Jahrhundertelang bemühte sich ein ganzes Heer von Gelehrten und Sprachwissenschaftlern darum, mit Gesetzen und Regeln für einen guten Klang und eine perfekte Aussprache zu sorgen. Und das ging nicht selten auf Kosten des Satzbaus, der Logik und der Systematik der Sprachkonstruktion.
Vielen Dank, vielen Dank. Das reicht erst mal …
Meine Mutter war eine weise Analphabetin. Und sie war eine große Anekdotenerzählerin und Gerüchteverbreiterin. Sie lachte gerne, obwohl sie ein schweres Leben hatte, und das prägte mich wahrscheinlich schon, als ich noch in ihrem Bauch war.
Sie erzählte viel. Mein Vater dagegen war von Natur aus eher schweigsam. Er las lieber, als dass er erzählte. Aber er besaß sehr sensible Ohren. In der Sprache meiner Mutter hieß das: Seine Ohren waren tiefe Brunnen, die sich nach einem Wasserfall sehnten.
Das, was meine Mutter aber bot, war noch nicht einmal die große Erzählkunst.
Der wahren Erzählkunst aber begegnete ich außerhalb meiner Familie. Alte Männer und Frauen, die weder schreiben noch lesen konnten, erzählten so beeindruckend von den Helden ihrer Geschichten, dass erwachsene Männer und Frauen weinten, lachten und staunend wie Kinder zuhörten.
Dort, unter den Zuhörern sitzend, begriff ich die filigrane Beziehung zwischen dem mündlichen Erzähler und seinem Publikum. Ich spürte als Zuhörer den Respekt, den er mir entgegenbrachte. Ich konnte es noch nicht erklären, aber Liebe bedarf keiner wissenschaftlichen Erklärung.
Die erzählten Worte trugen mich auf ihren Flügeln zu fernen Kontinenten und fremden Völkern. Und wenn die Erzählung zu Ende war, kehrte ich immer wie benommen nach Hause zurück und träumte davon, eines Tages Erzähler zu werden.
Naiv, wie ich damals war, fragte ich einen Meister um Rat und hoffte, er würde mir den Weg zeigen und mir möglichst schnell ein paar gute, einfache Regeln nennen. Und sobald ich sie auswendig gelernt hätte, könnte ich zu erzählen beginnen.
Seine Antwort enttäuschte und ernüchterte mich zugleich. Aber sie war auch meine Rettung: »Du musst erst zwanzig Jahre zuhören, und dann kann deine Zunge befreit erzählen. Nur über die Ohren wird die Zunge weise«, sagte er.
Zwanzig Jahre lang hörte ich nicht nur Geschichten, ich las sie auch wie besessen. Denn die Zunge wird nicht nur über die Ohren klug. Ich lernte auch, die Geschichten schnell zu verinnerlichen. Es gab keine Vorschriften oder Lehrbücher dafür. Empirisch erlernte ich diese Kunst. Selbstverständlich erlag auch ich dem Anfängerfehler, alles auswendig zu lernen. Doch das Auswendiggelernte lässt einen Erzähler dann im Stich, wenn er überhaupt nicht damit rechnet. Man
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