Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
hat einen »Blackout«. Und selbst das gnädigste und höflichste Publikum gibt einem Erzähler nicht länger als drei Minuten Zeit, um die bleierne Stille zu brechen. Schafft er es nicht, ist er verloren.
Doch gut erzählen, das konnte und kann nicht jeder. Es verlangt eine gute Stimme, eine innere Neigung, eine Furchtlosigkeit vor dem Publikum, eine gute Kondition, ein enormes Durchhaltevermögen und vor allem ein gutes Gedächtnis. Und hier muss ich mit einem Vorurteil aufräumen: Ein gutes Gedächtnis – das suggeriert, man müsse für das mündliche Erzählen auswendig lernen und brauche es deshalb. Aber das ist absolut falsch. Und zugleich zeigt sich hier auch der Unterschied zwischen den Rezitatoren und den mündlichen Erzählern. Rezitation bedeutet die künstlerische und dennoch wortwörtliche Wiedergabe eines bereits geschriebenen Textes. Er verändert sich nicht, auch wenn er zum hundertsten Mal vorgetragen wird. Die Rezitation ist ein statisches System. Das mündliche Erzählen dagegen ist ein dynamisches System. Es unterliegt Veränderungen und Wandlungen.
Wozu dann das gute Gedächtnis?
Für eine noch heiklere Aufgabe. Der Erzähler muss eine Geschichte verinnerlichen. Dies wird in einer Gegenüberstellung deutlich: Ein auswendig gelernter Text wird am besten sofort wiedergegeben, und je näher der Auftritt, umso perfekter gelingt der Vortrag. Mündlich Erzähltes dagegen wird umso runder und umso spannender gewebt, je öfter erzählt wird.
IBN ARISTO ÜBER ANEIGNUNG
Mit Verlaub, darf ich kurz erklären, was das Verinnerlichen genau bedeutet?
Anders als das Auswendiglernen muss beim Aneignen eine innige Beziehung zum Gegenstand entstehen. Aneignen setzt Verstehen, Kritik- und Gestaltungsfähigkeit voraus, denn nicht selten eignen wir uns ein Kulturprodukt anders an, als sein Schöpfer, sein Produzent, es sich ausgedacht hat. Ein Film, ein Text kann von zwei Menschen völlig anders angeeignet werden. Das liegt in der Natur der Aneignung.
Bezogen auf eine Geschichte heißt Aneignung nicht nur, sich den roten Faden einzuprägen, sondern die wichtigsten Ereignisse der Geschichte überzeugend zu plazieren, so dass sie entlang dieses roten Fadens liegen wie Blumentöpfe entlang einer Straße. Manche Geschichte lässt sich leicht zerlegen, manche nicht. Und nur Geschichten, die sich zerlegen lassen, kann man sich aneignen. Aus diesem Grund kannst du nicht all deine Geschichten erzählen. Ich habe es dir ja früh gesagt, aber du wolltest nicht auf mich hören. Das hat weder mit deinem Fleiß noch mit Länge und Kürze einer Geschichte zu tun, sondern lediglich damit, ob du vernünftige Stationen für eine Reise durch die Geschichte bauen kannst oder nicht.
Auswendiglernen, eine unentbehrliche Voraussetzung für die Rezitation, hat damit nichts zu tun. Man kann jeden Text auswendig lernen, wenn man die Sprache beherrscht und ein gutes Gedächtnis hat. Viele arabische Kinder können mit zehn den Koran auswendig rezitieren, ohne auch nur einen Satz zu verstehen.
Verinnerlichen heißt, die Geschichte in sich aufzunehmen und sie mittels eigener Sätze, Ereignisse, Wendungen wiederzugeben. Die Geschichte wird sich von Mal zu Mal verändern, von Vortrag zu Vortrag reifen, aber sie wird dadurch zu seiner Geschichte. Ein guter Erzähler kann seine Geschichte auch nach dreißig Jahren noch wiedergeben. Denn sie lebt in ihm. Und das hat einen göttlichen Vorteil: Eine Erzählung ist ein Unikat und fordert den Erzähler jedes Mal heraus. Er langweilt sich also nie auf der Bühne, und das spürt sein Publikum.
Gut, vielen Dank, Ibn Aristo, aber nun zurück zu meinem Leben.
Drei Jahre lang besuchte ich ein Internat in einem libanesischen Kloster und lernte gut Französisch. Dort entdeckte ich auch die französischen Meister von Dumas bis Balzac für mich. Nach meiner Rückkehr las ich auf Arabisch und Französisch und hörte mit meiner Mutter Nacht für Nacht im Radio die Fortsetzung der Geschichten von Scheherasad, wie ich bereits erzählt habe.
Anfang der sechziger Jahre, ich war vierzehn, fünfzehn Jahre alt, stieß ich auf gute wie schlechte Übersetzungen der Weltliteratur, und zugleich lernte ich die modernen arabischen Erzähler kennen. Ich las sie mit Neugier und anfänglich mit großer Zuneigung, doch bald schon war ich enttäuschtund ihrer müde. Meine Lust schwand von Roman zu Roman dahin. Denn so miserabel die Übersetzungen der Weltliteratur – egal ob Cervantes, Tolstoi, Hemingway, Faulkner, Jack
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