Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
Vom Netzwerk:
bisschen überlegen zu fühlen, wenn sie ihren sexuellen Hunger ignorierte.
    Meine Frage verärgerte Jessica. Sie ging, ohne sich zu verabschieden.
    Am nächsten Tag kehrte sie zurück und erklärte, an dem, was ich gesagt hatte, möge ja etwas dran sein, nur erkläre es nicht, warum sie und Paul keinen Sex mehr hätten.
    Ich fragte sie, was geschehen war – ob etwas Bestimmtes vorgefallen sei, das sie und Paul auseinandergebracht hatte.
    Es hinge mit der Geburt ihrer Tochter Phoebe zusammen, erklärte sie. »Ich denke, das ist ganz natürlich. Ich litt an Schlafmangel, mir quoll die Milch aus der Brust, und ich fürchtete, verrückt zu werden, wenn ich auch nur noch eine Nacht nicht schlafen konnte. Sex war da das Letzte, was ich wollte.«
    Sie erinnerte sich an eine bestimmte Nacht. Phoebe aß noch nichts Festes; sie musste so um die sechs Monate alt gewesen sein. Die Kleine wurde noch gestillt. Jessica versuchte, Phoebe an einen Rhythmus zu gewöhnen, damit sie die Nacht durchschlief. Sie gab ihr abends um zehn Milch und legte sie dann hin. Gegen Mitternacht begann Phoebe zu weinen. Jessica nahm an, sie müsse nur wieder in den Schlaf gewiegt werden. Paul gab sich lange Mühe, aber Phoebe wollte sich nicht wieder beruhigen. Er war davon überzeugt, dass sie mehr Milch brauchte.
    Jessica und Paul bekamen sich fürchterlich in die Haare. Sie meinte, er würde ihre Bemühungen, Phoebe an einen Rhythmus zu gewöhnen, unterlaufen, würde sie nicht genügend unterstützen. Er sagte, wenn sie Phoebe nicht anlegte, wollte er abgepumpte Milch aus dem Gefrierfach holen und sie selbst füttern, was er dann auch tat. Wie sich zeigte, hatte er recht gehabt – aus irgendeinem Grund war Phoebe noch hungrig gewesen. »Ich dachte, sie würde sich wieder einkriegen, könne sich selbst beruhigen.«
    Es kam noch schlimmer. Phoebe sank in tiefen Schlaf, sie gingen erneut zu Bett, und Jessica begann zu weinen. Sie wartete darauf, dass Paul sie in die Arme nahm, stattdessen drehte er ihr den Rücken zu. »Ich habe ihn gefragt, warum er mich nicht tröstet, und er hat gesagt: ›Ich finde, du solltest dich selbst beruhigen.‹ Die ganze Nacht war ich wach und auf beide wütend, auf Phoebe und auf Paul. Ich habe sie gehasst.«
    Jessica seufzte. Sie erzählte, ehe sie schwanger wurde, hatte sie sich vorgestellt, sie würde stets wissen, was zu tun war. Sie hatte geglaubt, dass sie eine gute Mum sein würde, jedenfalls besser als ihre eigene Mutter, besser als die meisten ihrer Freundinnen – und dass ein Baby ihre Beziehung mit Paul festigen würde.
    »Sie haben gehofft, ein Baby würde das Unglück Ihrer eigenen Kindheit aufwiegen«, sagte ich.
    »Ich dachte, ich würde mit meinem Baby eine Liebe erleben, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte«, sagte sie. »Eine gemeinsame Wärme, ein Verstehen«, erwiderte sie. »Und das habe ich auch – nur habe ich nicht gewusst, dass mich ein winziges Baby so wütend machen kann.«
    Jessica konnte regelrecht ausrasten, wenn Phoebe nicht schlafen wollte, oder auch einmal, als ihre Tochter im Sandkasten ein anderes Baby gebissen hatte. Phoebes Schreien fand sie besonders schlimm – »Sie hat geschrien, und jedes Mal, wenn sie schrie, war das, als wollte sie mir sagen, was ich für eine schreckliche Mutter bin. Ich habe nichts getan, habe sie nicht geschnappt und geschüttelt oder so, aber ich habe gespürt, dass ich dazu fähig wäre.« Jessica rutschte auf dem Sofa umher. »Bis mein Baby kam«, sagte sie, »habe ich mich eigentlich für einen netten Menschen gehalten.«
    Manchmal, wenn sie sich schlecht fühlte, wollte sie, dass Paul ihr beistand, ihr versicherte, dass sie eine gute Mutter war. Wenn Pauls Ansichten sich aber von ihren unterschieden, konnte sie das nicht ertragen. Das fühlte sich an, als würde er sie ebenfalls kritisieren. Und im Rückblick fiel ihr auf, dass sie ihre liebevollen Gefühle für Phoebe stets rasch zurückgewonnen hatte, nicht aber die für Paul.
    Ich sagte, vielleicht benutze sie Paul. Wenn Paul das Problem war, konnte sie sich weiterhin für eine gute Mutter halten und Phoebe für ein gutes Baby.
    Unvermittelt setzte Jessica sich auf. Ihr war noch etwas eingefallen. Einmal hatte sie in der Küche mit einer Freundin Tee getrunken, als Paul dazu kam und sich einen Stuhl an den Tisch zog. Phoebe, die auf ihrem Schoß saß, langte nach Jessicas Tasse und warf sie auf den Boden. Sie ging kaputt. »Und ich habe Paul angeschrien und ihn einen Idioten genannt. Meine

Weitere Kostenlose Bücher