Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
isoliert sind – so ist es zum Beispiel überhaupt nicht ungewöhnlich, sich im ersten Semester an der Universität zu verlieben. Doch sind diese Gefühle wirklich Liebe?
»Manchmal behaupte ich – allerdings nicht ganz im Ernst –, dass Verliebtheit diese aufregende Zeit am Anfang ist, echte Liebe dagegen jene langweilige Phase, die danach kommt«, sagte mir einmal die Dichterin Wendy Cope. »Wer liebeskrank ist, weigert sich, die eigenen Phantasien an der Realität zu überprüfen.« Angesichts der Qualen, die Liebeskranke leiden – der Verlust mentaler Freiheit, die Unzufriedenheit mit sich selbst und diese schreckliche Pein – fragt man sich allerdings, warum sich manche von uns so lange weigern, sich der Realität zu stellen.
Oft deshalb, weil es Einsamkeit zu akzeptieren heißt, wenn man sich der Realität aussetzt. Und während Einsamkeit durchaus nützlich sein mag – so kann sie uns etwa motivieren, jemanden kennenzulernen –, kann die Angst vor ihr auch wie eine Falle funktionieren und uns für lange Zeit in todunglückliche Gefühle verstricken. Schlimmstenfalls wird die Liebeskrankheit so zu einer geistigen Gewohnheit, einer Art, die Welt zu sehen, die sich letztlich nicht allzu sehr von der Paranoia unterscheidet.
Vor vielen Jahren hatte ich eine Patientin namens Helen B., eine siebenunddreißigjährige, freischaffende Journalistin. Neun Jahre lang hatte Helen eine Affäre mit einem verheirateten Kollegen namens Robert. Liebeskrank wie sie war, konnte sie kaum einen klaren Gedanken über ihn fassen. Jahrelang hatte Robert ihr gegenüber all seine Versprechen gebrochen. So hatte er vorgeschlagen, dass sie gemeinsam in den Urlaub fuhren, war aber dann mit der eigenen Frau gefahren. Er hatte geschworen, seine Frau zu verlassen, wenn das jüngste Kind zur Universität ging, doch der Tag war gekommen und vergangen, und Robert hatte nichts unternommen. Drei Monate nach Beginn der Analyse erzählte ihr Robert, er habe sich neu verliebt und wolle seine Frau verlassen. Weder verdrängte noch verleugnete Helen diese Information, doch schien sie unfähig, ihre Tragweite zu begreifen. Sie sagte mir, sie »durchschaue« ihn und wisse, was »wirklich vor sich geht«.
»Meine Freunde haben immer behauptet, Robert würde seine Frau niemals verlassen, aber sie haben sich geirrt – jetzt verlässt er sie«, verkündete sie triumphierend. Helen sagte, sie fände das »klasse« – sie ging davon aus, dass Roberts neue Freundin unfähig sei, »mit ihm fertig zu werden«, weshalb er letztlich sicher zu ihr zurückkomme. Natürlich bestand diese Möglichkeit, doch schien sie für Helen Gewissheit zu sein, und sie wehrte es ab, sich das Offenkundige einzugestehen: Robert hatte sich in jemand anderen verliebt. Wie die Paranoiker sind die Liebeskranken eifrige Informationssammler, nur fällt hinter all ihren Beobachtungen bald eine unbewusste Absicht auf – jede neue Tatsache bestätigt ihren Wahn.
Im ersten Jahr ihrer Analyse konnte ich Helen nicht dazu bringen, anders darüber zu denken. Sie erinnerte mich an jene Verschwörungstheoretiker, die glauben, Prinz Philip habe Prinzessin Diana ermorden lassen oder die CIA hätte die Angriffe vom 11. September geplant – ihre Überzeugung ließ sich auch durch noch so viele Beweise nicht erschüttern. Als ich sie darauf aufmerksam machen wollte, dass offenbar rein gar nichts ihre Gefühle für Robert ändern könne, wirkte sie irritiert. »Aber so ist doch die wahre Liebe, oder nicht?«
Wenn ich psychotherapeutische Techniken unterrichte, lasse ich oft Charles Dickens’ Eine Weihnachtsgeschichte auf die Leseliste setzen und dies deshalb, weil ich glaube, dass diese Geschichte eine außergewöhnliche psychologische Wandlung zeigt und Dickens uns etwas Entscheidendes darüber lehren kann, wie Menschen sich verändern.
Sie erinnern sich vermutlich, dass der geizige Scrooge in dieser Geschichte von drei Geistern heimgesucht wird. Der Geist der vergangenen Weihnacht bringt ihn in seine Kindheit zurück und zeigt ihm eine Reihe unglücklicher Augenblicke: wie der Vater ihn allein im Internat zurücklässt, wie seine jüngere Schwester stirbt, wie er beschließt, sich von seiner Verlobten zu trennen, um sich ganz dem Geldverdienen widmen zu können. Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht zeigt Scrooge die Großherzigkeit der armen Familie Cratchit, deren jüngstes Mitglied, Tiny Tim, im Sterben liegt – was unmittelbar damit zusammenhängt, dass Scrooge sich
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