Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
weigert, Bob Cratchit einen anständigen Lohn zu zahlen. Als der Geist der künftigen Weihnacht ihm dann das eigene vernachlässigte Grab zeigt, wird Scrooge zu einem anderen Menschen.
Scrooge ändert sich nicht, weil er sich fürchtet – er ändert sich, weil ihn ein Spuk heimsucht. Wir mögen uns davor fürchten, an Gewicht zuzulegen, doch wird uns das allein vermutlich nicht dazu bringen, das Essverhalten zu ändern. Von etwas heimgesucht zu werden aber ist anders. Dadurch wird für uns etwas Reales spürbar, werden wir uns einer Tatsache bewusst, der wir bislang aus dem Weg gegangen sind.
Welche Erkenntnis nun versucht Scrooge zu vermeiden?
Scrooge will nicht an den Tod seiner Mutter denken, an den Tod seiner Schwester oder an den Verlust seiner Verlobten – er kann den Gedanken nicht ertragen, dass Liebe einmal endet. Dickens erzählt, dass Scrooge, ehe er zu Bett geht, allein zu Abend isst und in seinen Geschäftsbüchern liest – in den Verzeichnissen von Einnahmen, Ausgaben und gezahlten Zinsen. Für mich besagt dies, dass Scrooge die Abende damit verbringt, sich zu trösten; wenn er seine Geschäftsbücher prüft, sagt er sich: »Siehst du? Keine Verluste, nur Gewinne.«
Letztlich ändert sich Scrooge, weil ihm die Geister die Wahnvorstellung nehmen, er könnte ohne Verluste leben. Und sie nehmen sie ihm, indem sie ihn mit den Verlusten konfrontieren, die er bereits in der Vergangenheit erlitten hat, die Verluste, die gegenwärtig um ihn herum erduldet werden, sowie mit dem künftigen unvermeidlichen Verlust des eigenen Lebens und all seiner Besitztümer.
Dickens’ Geschichte lehrt uns noch etwas: Scrooge kann die Vergangenheit nicht ändern, noch kann er sich seiner Zukunft gewiss sein. Als er am Weihnachtsmorgen als ein anderer Mensch wieder wach wird, kann er die Gegenwart ändern, da Veränderung nur im Hier und Jetzt stattfindet. Das ist wichtig, da der Versuch, die Vergangenheit ändern zu wollen, dazu führen kann, dass wir uns hilflos und deprimiert fühlen.
Dickens’ Geschichte deutete aber noch auf weitere, dunklere und unerwartete Einsichten hin. Manchmal kommt es nicht zu Veränderungen, weil wir uns vorgenommen haben, uns oder unsere Beziehungen zu den Lebenden zu verbessern; manchmal verändern wir uns dann am stärksten, wenn wir uns um die Beziehungen zu den Vergessenen, Verlorenen und Toten kümmern. Als Scrooge um jene trauert, die er einmal liebte, aber vergaß, beginnt er jene Welt zurückzugewinnen, die er verloren hatte. Er wird wieder lebendig.
Wenn also eine Patientin mich unbeabsichtigt wissen lässt, was ihr zusetzt – was sie weiß, sich aber einzusehen weigert –, dann ist es meine Aufgabe, wie einer von Dickens’ Geistern das Augenmerk der Patientin immer wieder eben darauf zu richten, damit der Geist sein Werk vollbringen kann.
Während des zweiten Jahres ihrer Analyse erzählte Helen eines Montags, sie hätte in einer Kunstgalerie eine ihr bekannte Zeitungsredakteurin getroffen. So lange sie denken könne, habe diese Redakteurin, eine Frau um die fünfzig, tadellos ausgesehen – die Frisur perfekt, die Finger manikürt, die Haut frisch und straff. »Sie trägt phantastische Kleider und tollen Schmuck«, erzählte Hellen, »aber sie kann es sich auch leisten, viel Zeit und Geld für sich aufzuwenden, da sie keine Familie hat.« Helen bewunderte diese Frau schon lange, diesmal aber wirkte die Redakteurin in dem Kreis junger Leute fehl am Platz, und sie hatte müde ausgesehen. Als Helen gehen wollte, sah sie die Redakteurin an der Bar stehen. »Sie war zu laut und versuchte viel zu angestrengt, sich an diesen jungen Typen heranzumachen – es war einfach peinlich.«
Ich fragte Helen, ob ich ihr versichern sollte, dass sie nicht wie diese Redakteurin enden würde.
»Lieber würde ich sterben, als so wie sie zu werden – allein den Gedanken finde ich unerträglich: keinen Mann, keine Familie und mich selbst auf irgendeiner angesagten Kunstausstellung zur Närrin machen?« Helen schwieg einen Augenblick. Dann wechselte sie das Thema.
»Ich glaube, Sie haben mir die Geschichte von der Redakteurin erzählt, weil Sie fürchten, einen Blick auf Ihre eigene Zukunft geworfen zu haben«, sagte ich.
In den folgenden Monaten erinnerte ich Helen immer mal wieder an den Abend in der Galerie. Die »Szene in der Bar« wurde zu einer Art Abkürzung, die dafür stand, dass Helen das Vergehen der Zeit leugnete und sich eine ewig währende Gegenwart wünschte.
Vieles
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