Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
besonders gut, aber da stand er und half zwei kleinen Kindern aus dem Wagen. Er war großgewachsen, hatte eine athletische Figur, und als Jessica ihn mit den Kindern sah, fand sie ihn sogar attraktiver als früher. Seit diesem Augenblick auf dem Parkplatz malte sie sich aus, wie es wäre, mit ihm eine Affäre zu haben. Sie verstummte.
Sie hatte mir früher bereits erzählt, dass Paul regelmäßig in den Fitnessclub ging und sehr auf seine Figur achtete – sie hielt ihn für ziemlich attraktiv, auch wenn sie selbst sich nicht zu ihm hingezogen fühlte. Ich sagte: »Ich versuche zu verstehen, wieso Paul niedlich ist, ein Süßer – und der Mann auf dem Parkplatz ist ›groß und athletisch‹.«
Sie konnte es nicht erklären. Jessica erinnerte sich daran, Paul vor einigen Wochen vom Flughafen Heathrow abgeholt zu haben. Er war zwei Tage auf einer Baustelle gewesen, und sie hatte ihn vermisst. Im Taxi nach Hause zog sie ihn an sich, um ihn zu küssen, aber als er ihren Kuss erwiderte, hörte sie sich Paul sagen, dass er sich anschnallen sollte. »So bin ich«, sagte Jessica. »Ich habe dichtgemacht.«
Sie erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Abend. Eine Taxifahrt von einem Restaurant in West-End zu Pauls Wohnung – »Wir konnten gar nicht aufhören, uns zu befummeln.« Mit ihm auszugehen, machte sie aber auch nervös, in gewisser Hinsicht war es die sorgenvollste Zeit ihres Lebens. Es gab Tage, da war sie davon überzeugt, dass Paul eine Frau suchte, die viel sexier und erfolgreicher war als sie. Wartete er nur darauf, dass eine Bessere auftauchte? Sie hatte diese Unsicherheit gehasst.
Beim Zuhören dachte ich an unsere erste Begegnung. Jessica war mehrere Monate zuvor von ihrem Hausarzt an mich überwiesen worden. Er teilte mir mit, dass es sie offenbar überfordere, die Arbeit, ihre Familie und die Pflege der Eltern unter einen Hut zu bringen. Während dieses ersten Treffens hatte Jessica gesagt, sie verstünde nicht, warum ihre Ehe so kalt geworden sei; sie hatte kaum noch Sex mit Paul.
Ihr Problem war nicht ungewöhnlich; Psychoanalytiker diskutieren seit hundert Jahren darüber. Nach Angstgefühlen nannte Freud es an zweiter Stelle als mögliche Ursache für das Leid seiner Patienten. »Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben«, schrieb er. Für dieses Dilemma gibt es viele Gründe und ebenso viele Lösungen. Jessica verhielt sich wie die Patienten, die Freud beschrieb, nur wusste ich nach drei Monaten Analyse immer noch nicht, warum. Der Versuch, mit ihr darüber zu reden, schien nicht zu fruchten. Ich fand, wir kamen nicht weiter.
Da ich mich sträubte, meine Gedanken zu wiederholen und Bekanntes erneut durchzukauen, schwieg ich, bis sie am Ende der Sitzung nach ihrem Mantel griff und ging.
Es war ungewöhnlich, dass Jessica am nächsten Tag nicht zu ihrer Stunde kam. Sie hinterließ auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht, der zufolge sie die ganze Woche nicht kommen konnte; beim nächsten Treffen wollte sie die Gründe erklären.
Am folgenden Montag kam sie zu spät. Der Auftrag in Cambridge war doch noch geplatzt. Sie sagte, sie sei die ganze Woche so beschäftigt gewesen, dass sie keine Zeit gefunden hätte, darüber nachzudenken oder zu den Sitzungen zu kommen. Sie hatte mit dem Auftrag auch finanziell fest gerechnet. Für die Firma war es ein großes Projekt. Sie hielt ihre Entwürfe für die besten. »Ich war einfach so deprimiert«, erklärte sie.
»Wieso haben Sie mich nicht angerufen, wenn Sie so deprimiert waren?«
»Ich habe ja nicht gewusst, dass ich Ihnen fehle«, sagte sie und lachte. »Haben Ihre anderen Patienten Ihnen nicht genügend Probleme mitgebracht?«
Während ich ihr zuhörte, kam mir der Gedanke, dass sie den Eindruck erwecken wollte, sie sei die fleißige Mutter und ich wie ihr Gatte ein weiteres, forderndes Kind. Ich sagte ihr das und erinnerte sie daran, was sie mir einmal mit offensichtlichem Stolz erzählt hatte, dass sich nämlich über die Jahre ihr Gewicht kaum verändert habe; sie habe ihren Appetit im Griff. Sie gestand mir auch, dass sie sich ein bisschen überlegen fühlte, wenn sie nicht aß, vor allem dann, wenn die anderen richtig zulangten.
»So bin ich nun mal«, antwortete sie. »Wollen Sie, dass ich wie die meisten Menschen aus lauter Frust anfange zu essen?«
Ich sagte, ich erzähle ihr das im Hinblick auf unser Gespräch über Sex in der Woche zuvor, da ich mich fragte, ob es ihr half, sich auch ein
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