Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
sah ich Emily nach, wie sie mit ihrer Mutter und dem älteren Bruder die Klinik verließ, als die Praxishilfe sagte: »Mir gefällt Emilys neue Frisur.« Ich pflichtete ihr bei. »Was glauben Sie, was mit dem Rest der Familie passiert ist?«, fragte sie. Ich erwiderte, ich verstünde nicht recht, was sie meine.
Sie erklärte, ihr sei aufgefallen, dass Emily im Laufe des letzten Jahres immer besser ausgesehen habe, die übrige Familie dagegen immer unordentlicher und sogar schmuddliger geworden sei. »Das passiert hier oft«, fuhr sie fort, »wenn es den Kindern bessergeht, verändert sich auch die übrige Familie.«
Die Beobachtung der Praxishilfe ließ mich den Fall in neuem Licht sehen. Ich war der Ansicht, dass meine Arbeit Emily geholfen hatte, ein klareres Bild von sich zu gewinnen – von ihren Fähigkeiten und dem, wozu sie in der Lage war –, und dass dieses Bild sich von den niedrigen Erwartungen unterschied, die die Eltern an sie gerichtet hatten. Emily konnte sich nun der Rolle besser widersetzen, die ihr unbewusst zugewiesen worden war. Jetzt aber begriff ich, dass Emilys Eltern – ohne es zu wissen oder willentlich zu wünschen – ihre Tochter zum Problem erklärt hatten, damit sie sich nicht mit ihren eigenen Problemen befassen mussten. Als sich Emily änderte, musste sich folglich auch die Familie ändern.
Eine Woche vor meiner letzten Sitzung mit Emily fand auch das letzte Treffen mit ihren Eltern statt. Gegen Ende unseres Gesprächs begannen sie, von sich zu erzählen, davon, wie schwierig die Dinge in den letzten Monaten geworden waren – und ob ich glaubte, dass ihnen eine Ehetherapie helfen könne.
Warum wir von Krise zu Krise stolpern
Als Elizabeth M. zu mir kam, war sie sechsundsechzig Jahre alt und ihr Mann gerade an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben.
Zu ihrer ersten Sitzung kam sie zu spät, da sie sich, kurz bevor sie aus dem Haus gehen wollte, an einer Glasscherbe geschnitten hatte, als sie den Stabfilter ihrer Kaffeekanne nach unten drückte und ausrutschte; die Kanne zerbrach. »Die Blutung hat aufgehört, aber meinen Sie, ich sollte trotzdem zum Arzt gehen?«, fragte sie.
Als ich sie in der Woche darauf wiedersah, hatte sie gerade ihre Handtasche mitsamt Handy, Portemonnaie und den Schlüsseln verloren. »Meinen Sie, ich sollte alle Schlösser austauschen lassen?«, wandte sie sich an mich. Eine Woche später erzählte sie, dass sie versehentlich Rotwein auf dem beigefarbenen Sofa ihrer Freundin verschüttet und es völlig ruiniert hatte. »Wie kann ich das nur wiedergutmachen?«, wollte sie wissen. Woche um Woche, Monat um Monat begann Elizabeth jede Sitzung damit, dass sie mir von ihrem neuesten Missgeschick erzählte und mich dann um Rat fragte.
Wir arbeiteten zusammen, erwogen sorgsam ihre Optionen, und meist kam ich mir nicht so sehr wie ein Psychoanalytiker vor, sondern wie ein Feuerwehrmann, der Kätzchen aus den Bäumen zu locken versucht. Während dieser ersten Sitzungen erzählte mir Elizabeth keinen einzigen Traum und redete auch nie über ihre Gefühle, dafür blieb keine Zeit; stets gab es neue, drängende Probleme. Ich sagte mir: »Was für ein Pech!« oder »Wenn das und das erst einmal geregelt ist, geht es mit der Analyse richtig los.« Doch nach mehreren Monaten wurde mir schließlich klar, dass es mit diesen Desastern nie aufhören würde – und dass dieses Stolpern von Krise zu Krise den Kern ihrer Analyse ausmachte. Ich würde es verstehen müssen, wenn ich sie verstehen wollte.
Nach etwa sechs Monaten gestand Elizabeth, dass sie morgens unter einer »deprimierenden, beklemmenden Angst« litt. Sie wachte verschreckt auf und zitterte oft vor Furcht, bis ihr ein Problem einfiel, irgendeine drängende Angelegenheit, die sie zwang, das Bett zu verlassen und sich dem Tag zu stellen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, deprimierende, ängstliche Gefühle zu umgehen. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass man dafür sexuelle Phantasien nutzt oder hypochondrische Sorgen. Elizabeth setzte ihre Katastrophen ein, um sich zu beruhigen – sie waren für sie wie Beruhigungspillen.
Es ist auch keineswegs ungewöhnlich, mit Hilfe des Unglücks anderer Menschen oder irgendwelcher größeren Katastrophen von eigenen destruktiven Impulsen abzulenken, und mir fiel bald auf, dass Elizabeth auch dazu neigte. Als sie sagte, sie hätte die Geburtstagseinladung zum Abendessen bei ihrer Schwester vergessen – »Der Termin stand in meinem Notizkalender. Ich
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