Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
aber er war nicht gelangweilt.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ganz einfach, weil ich nicht langweilig war.«
»Also haben Sie stur weiter auf ihn eingeredet?«
»Ich habe weitergeredet, ja«, erwiderte er.
Ich begann zu vermuten, dass Grahams Bereitschaft, Langeweile zu verbreiten, etwas Aggressives war. Schließlich hatte er eingestandenermaßen selbst bemerkt, dass sein Zuhörer ihm nicht länger zuhörte. Warum also hatte er weitergeredet?
Graham hatte mir einmal von den Sonntagen bei seinen Eltern daheim erzählt. So lang er sich erinnern konnte, luden seine Eltern am Sonntag die Großeltern sowie diverse Freunde zum Mittagessen ein. Und er gestand, dass er diese Besuche außerordentlich qualvoll fand. »Ein Raum voller Erwachsener, die nur reden und lachen – soweit ich mich erinnere, haben sie niemals eine Familie mit Kindern in meinem Alter eingeladen.« Ich malte mir aus, wie einsam sich Graham gefühlt haben musste. Vielleicht wollte er in seinen Zuhörer jenes Gefühl erzeugen, dass er seit diesen Mittagessen mit sich herumtrug – vielleicht war die Apathie, die er verbreitete, eine Art der Verzweiflung.
Nach einigen Monaten Analyse fiel Graham ein Traum ein. Darin stand er vor dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Er wollte es betreten, konnte es aber nicht. Ich hatte es mir zur Regel gemacht, mich auf den Inhalt von Träumen zu konzentrieren, einige Zeit mit ihrer Entschlüsselung zu verbringen und all die Anspielungen zu verstehen. Graham brauchte ziemlich lang, um mir den Traum zu schildern. Er beschrieb das Haus sowie seine Geschichte und berichtete dann bis ins Detail seine Empfindungen, die er mit den einzelnen Räumen und ihrer Einrichtung verband. Als er dann wenige Tage später während einer Sitzung sehr lang brauchte, um einen vergleichsweise unbedeutenden Vorfall aus seiner Kindheit zu erzählen, überkam mich plötzlich der Gedanke, dass Graham mich zum Schweigen bringen wollte. Er wusste, dass ich Träume und Erinnerungen wichtig fand und ihn nicht unterbrechen würde, also ließ er sich Zeit und hielt sich so lang wie möglich mit diesen Geschichten auf.
Grahams Langeweile war tatsächlich aggressiv – sie war seine Art zu kontrollieren und auszugrenzen, gesehen zu werden, ohne zu sehen. Sie diente auch noch einem anderen Zweck. Gerade im Kontext seiner Analyse bewahrte sie ihn davor, in der Gegenwart leben zu müssen, anerkennen zu müssen, was um ihn herum im Zimmer geschah.
Wenn ich mit ihm über Geschehnisse in seinem Leben redete, blickte er zurück und vermied es, sich zu fragen, was er heute dabei empfand oder darüber dachte. »Ich bin nie dagewesen«, sagt Hamm in Becketts Endspiel . »Abwesend, immer. Alles ist ohne mich vorgegangen.« Grahams lange Abschweifungen ins Vergangene waren eine Zuflucht vor der Gegenwart. Unwissentlich verweigerte er der Gegenwart immer wieder jegliche Bedeutung.
Um die Zukunft trauern
»Hallo. Diese Nachricht ist für Stephen Grosz. Ich heiße Jennifer T. Ihren Namen habe ich von Dr. W. in San Francisco. Daher komme ich. Ich hätte gern gewusst, ob Sie Zeit haben und noch neue Patienten annehmen. Oder ob Sie mir helfen könnten, einen anderen Arzt zu finden.«
Jennifer kam zehn Minuten zu spät zu ihrem Termin. Es tat ihr leid, in der Schule war etwas Wichtiges zu erledigen gewesen, weshalb sie noch mit einer Lehrerin reden musste, ehe sie gehen konnte. Nachdem sie mir gegenüber Platz genommen hatte, sagte sie, sie wolle einen Therapeuten aufsuchen, weil ihr Vater kürzlich gestorben sei. Vor vier Monaten hatte er auf einem Highway angehalten, um einem jungen Paar zu helfen, dessen defektes Auto auf der Mittelspur stand. Ihr Vater hielt am Straßenrand und machte dem Paar Zeichen, es solle im Wagen bleiben, als er von einem Lastwagen gestreift wurde, der dem Auto auszuweichen versuchte. Er starb noch im Krankenwagen. Er wurde zweiundsechzig Jahre alt.
Sie erzählte, sie habe ihrem Vater besonders nahe gestanden. Die Eltern hätten sich scheiden lassen, als sie noch ein Teenager war; ihre Mom hatte wieder geheiratet. Sie war ein Einzelkind. Ihr Dad lebte in Kalifornien, doch schrieben sie sich häufig E-Mails und unterhielten sich oft miteinander. Als Frühaufsteherin gefiel es ihr, ihren Dad gleich nach dem Aufstehen anzurufen, wenn sie sich einen Kaffee machte und er ein wenig aufräumte, ehe er zu Bett ging. »Ich verstehe nur nicht«, sagte sie, »dass ich so seltsam gefasst bleibe. Ich bin gar nicht so aufgebracht, wie ich
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