Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Verletzungen, die darauf hindeuteten, dass er gepackt und geschüttelt worden war. Thomas erzählte der Erzieherin, er werde von seiner Mutter geschlagen – und er wolle sich umbringen. Man zog die Fürsorge hinzu. Thomas’ Mutter gestand dem Sozialarbeiter, dass sie mit ihrem Latein am Ende sei; dass Thomas nie auf sie hörte, dass er sich einfach unmöglich benehme. Sie wisse nicht mehr, was sie noch tun solle. »Alles wäre in Ordnung«, sagte sie, »wenn Thomas nur versuchte, ein guter Junge zu sein.«
Thomas’ Lehrerin wurde gebeten, einen Bericht über ihn zu verfassen. Sie schrieb, er wirke »abgelenkt«, so als lebe er »in seiner eigenen Welt«. Während des Unterrichts, fuhr sie fort, spazierte er im Klassenzimmer herum, mied jeden Blickkontakt und gefiel sich immer wieder darin, Gewaltphantasien zu schildern, die sich gegen die Lehrer und seine Klassenkameraden richteten.
Dem Sozialarbeiter, der seine Familie aufsuchte, erzählte Thomas, dass er seine Mutter umbringen wolle – »Ich schlitze sie mit dem Messer auf, reiße ihr die Eingeweide raus und spanne sie auf ein Streckbett, bis ihr sämtliche Gelenke brechen.« Dem Kinderpsychiater erzählte Thomas, er wolle ein Mädchen in seiner Klasse töten – »Am liebsten würde ich ihr den Kopf abhacken«, sagte er und brachte am nächsten Tag ein großes Küchenmesser mit zur Schule – »um es ihr schon mal zu zeigen.« Er wurde sofort von der Schule genommen und in eine Klasse jener Station für Kinderpsychiatrie gesteckt, auf der ich arbeitete.
Thomas war bereits bei einer Reihe von Ärzten gewesen, so bei mehreren Kinderpsychiatern, einem Psychotherapeuten, einem Schulpsychologen und einem Kinderarzt. Alle waren der Ansicht, dass er an hochfunktionalem Autismus litt oder einem Asperger-Syndrom. Ein Psychiater vermutete, Thomas könne auch am Tourette-Syndrom oder an einer prä-schizophrenen Störung leiden; ein anderer beschrieb ihn als jemanden mit »manischen und psychotischen Charakteristika.« Der für Thomas’ Behandlung verantwortliche Psychiater verschrieb ihm Medikamente und empfahl, dass man ihn fünfmal die Woche zur Analyse schickte.
Ich lernte Thomas in einem kleinen Beratungszimmer kennen, das auf demselben Flur wie die Klassenräume der Station lag. Dort gab es ein Waschbecken und einen Schrank mit acht Schließfächern, eines für jedes Kind, das in diesem Zimmer behandelt wurde. In Thomas’ Schließfach lag das Übliche: Papier, abwaschbare Filzstifte, eine Schnur, Tesafilm, Knete, eine Familie von Stoffpuppen sowie mehrere kleine Plastiktiere. Man ging davon aus, dass sich das Spiel eines Kindes mit den freien Assoziationen eines Erwachsenen vergleichen ließe und dass der Schrankinhalt einem Kind helfen könne, Gefühle auszudrücken, die es nicht in Worte zu fassen vermochte.
In der ersten Stunde erzählte Thomas, dass er einen seiner Lehrer umbringen wolle, dann sagte er, dass er mich umbringen werde. Ich nahm an, dass er nicht meinte, was er sagte, dass er nur versuchte, mich zu erschrecken. Als ich ihn fragte, was er empfand, reagierte er, indem er zu seinem Schließfach ging und es ausräumte. Er zerriss das Papier, versuchte, die Marker zu zerbrechen, stampfte auf den Puppen herum, warf dann alles ins Waschbecken und drehte den Hahn auf. Ich sagte, meiner Meinung nach versuche er mir zu zeigen, wie wütend er sei, wie verzwickt und durcheinander seine Gefühle waren. Er fragte, ob er aufs Klo gehen dürfe. Ich wartete vor der Tür, hörte die Spülung, den aufgedrehten Wasserhahn und dann das Geräusch von zerbrechendem Glas. Thomas hatte mit der rechten Hand ein kleines Fenster über dem Becken eingeschlagen. Das Handgelenk blutete heftig. Er war schockiert, trotzdem rief er: »Ich wurde angeschossen! Auf mich wurde geschossen! Man hat auf mich geschossen im Nahen Osten!«
Es fiel mir nicht leicht, einen Zugang zu dem zu finden, was da gerade passiert war. Thomas wirkte verstört, dennoch kam mir seine Reaktion wie ein Bühnenauftritt, wie ein Schauspiel vor.
Wir trafen uns am nächsten Tag wieder, und obwohl Thomas ruhiger wirkte, schien er dennoch fest entschlossen, mich aus der Fassung bringen zu wollen. Während der Sitzung sagte er immer wieder »dicke Möpse« und »fette Lesbe« – Ausdrücke, die, wie er mir erklärte, seine Lehrerinnen in Rage brachten. In der darauffolgenden Woche malte er Hakenkreuze an die Wände und auf die Möbel, lief im Stechschritt durchs Zimmer, nannte mich einen dreckigen
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