Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
in einem großen Kaufhaus, machte dann aber ihr eigenes Kleidergeschäft auf. Manchmal hatten sie Geld, dann wieder schienen sie keinen Penny mehr zu haben. Als sie zehn Jahre alt war, lebten sie in einem großen viktorianischen Haus; dann zogen sie plötzlich in eine kleine Zwei-Zimmer-Mietwohnung, in der es nach Acrylteppich roch.
Sie erzählte, dass ihre Familie kaum gesellschaftlichen Umgang pflegte – Mom und Dad schienen keine Freunde zu haben; niemand kam zum Essen. Zweimal im Jahr, zu Thanksgiving und Weihnachten, wurde der Wohnzimmertisch ausgezogen, die weiße Leinendecke gestärkt und gebügelt und Moms Familie eingeladen. Gemeinsam mit ihrer Mom begann Jennifer schon mehrere Tage im Voraus, sich um das Essen zu kümmern; es gab immer viel zu viel, und die Gespräche – sofern es denn welche gab – drehten sich ums Essen.
Dans Familie stammte aus Boston. Sie waren nicht besonders wohlhabend, führten aber eine andere Art Leben. Der Vater war Arzt, die Mutter arbeitete im Büro des Bürgermeisters. Sie hatten eine große Küche, und irgendwer schien immer am Tisch zu sitzen und Gespräche zu führen. Seine Eltern liebten Partys. Jennifer war gern dort. Sie fühlte sich bei ihnen zu Hause, umsorgt. Waren sie und Dan erst einmal verheiratet, würde es bei ihnen daheim ähnlich zugehen. Sie stellte sich vor, dass Dans Eltern in der Nähe wohnten – »sie würden phantastische Großeltern abgeben«.
Während Jennifer redete, dachte ich darüber nach, wie ähnlich doch die Situation mit ihrem Vater und mit Dan war – der Vater war gestorben, die Beziehung zu Dan fast tot. Beides, sagte sie, nähme sie seltsam gefasst hin, beinahe unbesorgt. Warum trauerte sie nicht um den Vater? Oder um das Ende ihrer Beziehung zu Dan?
Ich versuchte, Jennifer meine Gedanken darzulegen. »Mir scheint, Sie sind so sehr in der Zukunft gefangen – Ihr Vater kommt zu Ihrer Hochzeit und wohnt nicht weit von Dans Eltern –, dass Sie Ihr jetziges Leben, das Leben in der Gegenwart, ganz unberührt lässt.«
Sie schaute mich an, lächelte und nickte. Ich dachte, sie stimmt mir zu, wie sie Dan zustimmt – sie begreift es nicht, macht sich aber um sich keine Sorgen. »Sie wirken nicht gerade beunruhigt«, sagte ich. »Dabei könnten Sie für sehr, sehr lange Zeit dort festsitzen.«
»Sie behaupten also, Dan würde sich nicht mehr ändern«, sagte sie.
Ich betrachtete die junge Frau mir gegenüber und stellte mir meine Tochter vor, wie sie, Jahre später, in Jennifers Alter, in einer ähnlich leblosen Beziehung steckte – was sollte ihr ein Kollege dann raten? Was könnte er sagen, das ihr helfen würde?
Ich wünschte mir, er würde ihr sagen, dass wir manchmal um die Zukunft trauern müssen, dass viele junge Paare mehr Zukunft als Gegenwart haben. Sich trennen bedeutet nicht nur, die Gegenwart aufzugeben, sondern auch die Zukunft, die sie sich erträumten. Eine Beziehung beenden, ein neues Leben beginnen, den richtigen Menschen kennenlernen, heiraten und Kinder bekommen, all das kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen – weit mehr, als sie vielleicht glaubt. Um zu bekommen, was sie möchte, wird sie vermutlich einigen Schmerz erleiden müssen, doch sich der Realität zu stellen, wie schrecklich sie auch sein mag, ist fast immer besser als die Alternative. Ich wünschte mir, mein Kollege würde meiner Tochter sagen, dass er ihr helfen würde, falls sie es denn möchte, dass er sich all dem mit ihr gemeinsam stellen wollte.
Das sagte ich zu Jennifer. Sie nickte erneut und erwiderte, was ich gerade gesagt hätte, wühle sie sehr auf, doch sei sie froh über meine Worte. Sie weinte noch, als sie ging.
Analytiker weisen gern darauf hin, dass die Vergangenheit in der Gegenwart fortlebt, aber das gilt auch für die Zukunft. Die Zukunft ist kein Ort, zu dem wir unterwegs sind, denn sie ist heute schon eine Idee in unserem Kopf. Sie ist etwas, was wir erschaffen, und von der wir wiederum erschaffen werden. Die Zukunft ist eine Phantasie, die unsere Gegenwart prägt.
Wie uns Wut vor Trauer schützt
Einige Jahre nach Abschluss meiner Ausbildung zum Psychotherapeuten hatte ich einen Patienten namens Thomas. Thomas war neun Jahre alt und gerade von der Schule geflogen.
Einige Monate, ehe wir uns kennenlernten, hatte eine Erzieherin an Thomas’ Schule auf seinen Armen und Beinen die Abdrücke von einem Gürtel entdeckt. Außerdem fand sie an den Oberarmen blaue Flecke und Druckspuren von Fingernägeln – parallele
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