Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Juden und schrie: »Sieg Heil! Sieg Heil!«
Einige Wochen später begann er mit einer Reihe von Zeichnungen. Diese Bilder, hingekritzelt in ein, zwei Minuten, zeigten ihn, wie er sich über mich beugte, ein Fleischerbeil in der Hand, um mich in Stücke zu hacken. An anderen Tagen malte er, wie er am Tisch saß, eine Serviette um den Hals, und meine Körperteile aß.
Diese Sitzungen waren verstörend, doch machten mir seine diversen Attacken nicht allzu viel aus – sie waren extrem, sicher, wirkten aber nie so, als seien sie persönlich gemeint. Und nach und nach begann Thomas, mir aus seinem Leben zu erzählen. Nach zwei Monaten Behandlung berichteten seine Lehrer, dass sich sein Verhalten im Klassenzimmer bessere – es gelang ihm offenbar, das Therapiezimmer als einen Raum zu nutzen, in dem er seine Wut und Verwirrung ausleben konnte.
Dann begann Thomas, mir ins Gesicht zu spucken. »Ich mache doch keine unanständigen Gesten, oder?«, fragte er und zeigte mir den Stinkefinger. »Ich trete nicht gegen die Tür, oder?«, »Ich springe nicht aufs Sofa, oder?« »Ich spucke Sie nicht an, oder?«
Eines Tages saßen wir im Therapiezimmer am Kindertisch, als Thomas mir sagte, dass er seine Freunde vermisse. Einmal hatte er Oliver – seinen besten Freund in der Schule – im Supermarkt gesehen, aber Oliver durfte nicht mehr mit ihm reden. Thomas klang traurig, und das sagte ich ihm. Gleich spuckte er mir ins Gesicht, zweimal, rannte dann zum Sofa und begann, darauf herumzuhüpfen. Ich sagte, meine Worte – dass er traurig klinge – hätten ihn offenbar so getroffen, dass er mich anspucken müsse, um den Schmerz ertragen zu können.
Während unserer Sitzungen versuchte ich, ihm sein Verhalten mit Worten zu beschreiben, von denen ich hoffte, dass er sie verstand und etwas damit anfangen konnte – ich sagte ihm, mir ins Gesicht zu spucken sei seine Art, mich loszuwerden, bevor ich ihn loswerden konnte, eine Möglichkeit, die Distanz zwischen uns zu kontrollieren. Ich nannte sein Spucken ein Schuldbekenntnis, einen Versuch, mich zu einer Bestrafung zu provozieren. Dann wieder sagte ich Thomas, ich nähme an, er wolle, dass ich wütend auf ihn sei, um sicherzugehen, dass sich meine Gedanken allein um ihn drehten. Diese und andere Interpretationen schienen jedoch keine oder nur wenig Wirkung zu zeigen. Die nächsten anderthalb Jahre spuckte mir Thomas – während jeder Sitzung – ins Gesicht.
Obwohl ich wöchentlich an einer Supervision teilnahm und regelmäßig zu einem Klinikseminar für Kinderpsychiater und -analytiker ging – die mir ausnahmslos hilfreiche und kluge Ratschläge für meine Sitzungen mit Thomas gaben – war ich nervlich am Ende. Ich begann, mich vor der Wut zu fürchten, die mich nach seinen Attacken überfiel. Außerdem hatte ich nicht bloß den Eindruck, gar nicht weiterzukommen, ich begann auch, den Glauben an meinen Beruf zu verlieren.
Ich rief Dr. S. an, eine Kollegin, die seit über fünfzig Jahren als Analytikerin für Kinder und Erwachsene arbeitete. Eines Abends verließ ich meine Praxis, fuhr quer durch die Stadt zum Haus von Dr. S., nahm ihr gegenüber Platz und begann, meine Unterlagen auszupacken.
»Legen Sie die Papiere beiseite«, bat sie. »Erzählen Sie mir einfach von ihm.«
Während der nächsten halben Stunde erzählte ich ihr von Thomas. Ich versuchte, die Atmosphäre zwischen uns zu beschreiben und das, was meiner Meinung nach vor sich ging. Sie hörte zu und stellte eine Reihe von Fragen nach seiner Geburt und frühen Kindheit, den Eltern und jüngeren Schwestern, der psychiatrischen Diagnose und den Zeugnissen. Dann fragte sie: »Wie fühlen Sie sich, wenn er Sie anspuckt?«
»Wütend«, antwortete ich. »Auch verzweifelt – aber vor allem wütend. Und meine Wut macht mir ein schlechtes Gewissen.«
»Es gibt auf der Station mehrere Kinder, die spucken. Ist die Wirkung immer dieselbe?«
»Nein«, erwiderte ich und beschrieb einen sechsjährigen Jungen mit der Diagnose Autismus. Vor einigen Wochen hatten wir ein wenig auf dem Spielplatz gebolzt, als er ganz aufgeregt wurde und zu mir rannte, um mir etwas zu erzählen, mich stattdessen aber anspuckte. »Er hat mich nicht wütend gemacht. Im Gegenteil, ich wollte ihm zu verstehen geben, dass er nichts Schlimmes getan hatte, wollte ihn in den Arm nehmen.«
Dr. S. schwieg einen Moment. »Ich frage mich, ob Sie erwarten, dass Thomas sein Spucken bewusst einsetzt. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Doch
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