Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Italiener gleich bei dir um die Ecke?«
Als Tom vor fünf Jahren an einer Depression zu leiden begann, bat er mich, ihm einen Analytiker zu empfehlen. Ich schlug Dr. A. vor, mit der ich meine Ausbildung gemacht hatte und deren Arbeit ich bewunderte. Tom und ich waren seit beinahe zwanzig Jahren befreundet, und wir sahen uns oft, mindestens einmal die Woche. Während dieser fünf Jahre aber hatte er seine Analyse kein einziges Mal erwähnt, und aus Respekt vor seiner Privatsphäre hatte ich auch nie danach gefragt.
Wir trafen uns zum Mittagessen und redeten über seine anstehende Beitragsreihe fürs Radio. Als der Kellner schließlich unsere Teller abräumte und den Kaffee brachte, waren die meisten Mittagsgäste bereits wieder fort; das Lokal hatte sich geleert.
Tom wandte sich an mich. »Du hast mich nicht gerade angelogen«, sagte er, »aber du hast mir auch nie gesagt, was mich erwartete.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was du meinst«, erwiderte ich.
»Analyse. Die meiste Zeit habe ich gar nicht begriffen, was während meiner Analyse mit mir passierte. Dr. A. hat sich so auf das konzentriert, was ich …« Er verstummte.
»Auf das, was du gedacht hast?«, fragte ich.
»Nein, eben nicht – das ist es ja gerade. Sie hat so viel Zeit mit diesen Kleinigkeiten zugebracht, mit Dingen, die überhaupt nichts mit dem zu tun hatten, was ich gedacht habe.«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte ich.
»Das verstehst du ganz bestimmt, aber lass mich dir ein Beispiel nennen.« Einen Moment lang musterte Tom die Kaffeetasse. »Ich gehe zu ihrer Praxis und drücke auf die Klingel. Sie hat einen Türsummer. Was soll ich machen, wenn sie nicht gleich reagiert? Soll ich noch mal klingeln? Und wenn ich noch mal klingle, findet sie mich dann aufdringlich? Schließlich ertönt der Summer. Ihre Praxis liegt im vierten Stock. Ich muss mit dem Aufzug fahren. Ich würde lieber die Treppe nehmen, aber wenn ich das mache, komme ich verschwitzt an, also entscheide ich mich für den Aufzug.
Nur ist das mit dem Aufzug so ein Problem. Ich möchte nicht von irgendwem gesehen werden, wie ich zu einer Psychoanalytikerin gehe, da bin ich eigen. Nun gut, ich fahre in den vierten Stock und schaffe es bis vor ihre Tür. Die Tür lässt sich mit einem dieser Zahlenschlösser öffnen, damit die Patienten sich selbst ins Wartezimmer einlassen können. Manchmal vertippe ich mich bei der Zahlenkombination. Hört sie zu? Denkt sie: ›Was für ein Trottel?‹
Ich komme fünf Minuten zu früh ins Wartezimmer. Soll ich was lesen? Sie hat mir einmal gesagt, sie fände es interessant, dass ich angefangen hätte, etwas zu lesen, obwohl mir nur wenige Minuten bis zum Beginn meiner Stunde blieben. Vielleicht sollte ich also lieber nichts lesen. Was mache ich, wenn noch jemand ins Wartezimmer kommt? Lächeln? Und was tue ich, wenn ihr Kollege kommt? Sage ich dann hallo? Gibt es eine Regel für all das?
Sie verspätet sich um eine Minute, dann sind es zwei Minuten; sie hat mich immer noch nicht geholt. Hat sie mich vergessen? Sie kommt ins Wartezimmer. Sehe ich sie an oder sehe ich sie nicht an? Und wenn ich ihr in die Praxis folge, schaue ich mich dann um oder lieber nicht? Was möchte ich sehen? Oder versuche ich, den Anblick von irgendwas zu vermeiden?
Jetzt stehe ich vor der Couch. Lege ich mich wirklich hin? Mit meinen nassen, dreckigen Schuhen auf die saubere, ordentliche Couch? Oder ziehe ich sie aus? Ziehen Patienten normalerweise ihre Schuhe aus? Ich habe keine Ahnung. Wenn ich die Schuhe ausziehe, die meisten Leute sie aber nicht ausziehen, wirke ich seltsam. Und wenn ich die Schuhe nicht ausziehe, obwohl die meisten Leute sie ausziehen – dann bin ich ein Schmutzfink. Ich beschließe, ich bin lieber seltsam als ein Schmutzfink, also raus aus den Schuhen.
All das habe ich durchgemacht, bis ich endlich auf der Couch liege. Diese ganze Diskussion – diese Auseinandersetzung mit vermeintlichen Vorwürfen und mit meinen Selbstvorwürfen, diese Litanei der Zweifel und Probleme – all das ist abgelaufen, ehe auch nur einer von uns ein Wort gesagt hat.«
Tom trinkt seinen Espresso in einem Zug aus.
»Es hat lange gebraucht – vielleicht einige Jahre –, um das ganze Hin und Her auseinanderzuklauben, denn, ehrlich gesagt, wer will schon offenlegen, wie unbedeutend das ist, was einem ständig durch den Kopf geht? Dr. A. aber kam immer wieder darauf zurück und hat mich gebeten, darüber zu reden. Mein Gott, wir haben
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