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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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weil Sie annehmen, dass er sein Spucken kontrollieren kann, sind Sie wütend auf ihn, wenn er Sie anspuckt. Sie sollten erwägen, ob er nicht Sie und andere Menschen braucht – seine Mutter, seine Lehrer –, um genau diese Erwartung zu erzeugen. Er braucht Sie, damit Sie wütend auf ihn sind.«
    Dr. S. hatte recht. Thomas hatte mich eine fette Lesbe genannt, einen dreckigen Juden, hatte den Stinkefinger gezeigt und gegen die Tür getreten – welche Mühe, nur um herauszufinden, was mich wütend machte. Drei Monate hatte es gedauert, bis er endlich fand, was mich aufbrachte – und dann hatte er es wieder und wieder und wieder getan.
    »Aber warum stecken wir da fest?«, fragte ich.
    »Denken Sie über diese Pattsituation nach«, antwortete sie. »Sie wissen, wenn man in einer Sackgasse steckt, dann gewöhnlich deshalb, weil sie für beide eine Funktion hat, für Patient und Analytiker. Stellen Sie sich vor, diese Sackgasse sei ein Hindernis, das Sie beide sich geschaffen haben. Welchen Zweck erfüllt es? Was haben Sie davon?«
    Wir trugen unsere Kaffeetassen in die Küche. Ich dankte ihr und ging. Auf der Rückfahrt ließ mich ihre Frage nicht mehr los.
    Am nächsten Tag holte ich Thomas aus dem Klassenzimmer ab; er rannte zum Therapiezimmer und schrie: »Kaputt, kaputt, kaputt!« Vor der Tür drehte er sich um und sah mich an: »Na? Haben Sie dazu was zu sagen?« Ehe ich antworten konnte, spuckte er mir ins Gesicht.
    Wir gingen hinein. »Wenn du mich anspuckst«, sagte ich, »willst du, dass ich wütend werde, denn wenn ich wütend auf dich bin, heißt das, ich glaube, dass du anders sein könntest als du bist. Solange ich wütend werde, bedeutet das, ich gehe immer noch davon aus, dass wir reparieren können, was kaputt ist.«
    Er schwieg einen Moment, dann fragte ich: »Kannst du mir sagen, was kaputt ist?«
    »Mein Hirn ist kaputt, Blödmann.«
    Er ging zu dem kleinen Stuhl, auf dem ich saß. »Mein Hirn funktioniert nicht, jedenfalls nicht so wie das von anderen Leuten.«
    Er setzte sich zu mir an den Kindertisch und beschrieb, was er am Morgen auf dem Weg zur Station aus dem Busfenster gesehen hatte: überall Kinder in Schuluniform mit Büchertaschen, Sportbeuteln und Fußbällen. Er kannte viele der Jungen und Mädchen von seiner früheren Schule. Sie wuchsen heran, lernten neue Sachen. »Ich habe keine Schultasche, in Fußball bin ich eine Niete, und in der Klasse machen wir Babykram. Habe ich Ihnen erzählt, dass meine Schwestern sich gegenseitig das Einmaleins abfragen? Sie sind jünger als ich und können schon so vieles, was ich nicht kann, weil ihre Hirne funktionieren. Meins ist Schrott.«
    Er blickte mir in die Augen. »Das ist doch echt traurig, nicht? Wirklich echt traurig.«
    »Ja, das ist wirklich sehr traurig.«
    Eine tiefe Stille senkte sich über das Zimmer.
    Zwei Tage später hat er mich noch einmal angespuckt, danach nie wieder.
    *
    Im Rückblick ist klar, dass Thomas und ich in einer Sackgasse steckten, weil wir beide den Gedanken unerträglich fanden, dass er irreparabel gestört war. Erst als wir traurig und verzweifelt sein konnten, weil sich nicht heilen ließ, was kaputt war, hatte sein Spucken für uns beide keinen Zweck mehr, und wir vermochten die Sackgasse zu verlassen.
    Thomas ist längst ein erwachsener Mann. Er lebt mit einer seiner Schwestern auf dem Land und hat einen Arbeitsplatz in der Poststelle einer kleinen Firma.
    Mehrmals im Jahr ruft Thomas mich an, meist, wenn sein Psychiater nicht da ist. Er beginnt damit, dass er mich fragt, ob ich noch wisse, wann seine Analyse begonnen habe. Ich sage ja. Dann nennt er mir die genaue Zeit, den Wochentag und das Datum unserer ersten Sitzung. Anschließend fragt er, ob ich noch wisse, wann seine Analyse zu Ende gegangen sei, und ich sage ja. Dann nennt er mir die genaue Zeit und das Datum unserer letzten Sitzung. Er sagt, dass sei lange her, »aber es war eine wichtige Zeit«. Manchmal erzählt er, was ihm in letzter Zeit so passiert ist, aber meist will er über etwas reden, was geschah, als er noch ein kleiner Junge war. Und dann, kurz bevor er auflegt, sagt er jedes Mal: »Denken Sie noch an mich? Erinnern Sie sich an das, worüber wir geredet haben?« Und ich erwidere jedes Mal: »Ja, das tue ich.«

Was es heißt, Patient zu sein
    Tom rief an, um mir zu sagen, er habe um elf Uhr ein Treffen mit einem Rundfunkredakteur ganz in meiner Nähe, da könnten wir doch zusammen zu Mittag essen. »Warum treffen wir uns nicht beim

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