Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
uns wochenlang mit der Schuhfrage abgegeben. So etwas hatte ich nicht erwartet.«
»Und was hast du erwartet?«
»Ich dachte, ich würde auf ihrer Couch liegen, mich an die Vergangenheit erinnern, um dann mit ihr irgendein tief verschüttetes Trauma aufzudecken, das sie dann elegant vor mir ausbreiten würde … Oder wir würden über meinen Ödipus-Komplex reden oder über einen Traum über den Schwanz von meinem Dad. Natürlich haben wir irgendwann über meine Familie und die Vergangenheit geredet – sie hat diese Zusammenhänge aufgezeigt –, aber das Ausmaß an Zeit, die sie damit verbracht hat, ein genaues Bild von dem aufzubauen, was in meinem Kopf vorging, hat mich wirklich überrascht. Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche hat sie sich mit meiner Denkweise beschäftigt. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Nach und nach stellte sich heraus, dass ich zu jedem Augenblick meines Wegs von ihrer Haustür bis zur Couch damit rechnete, wegen irgendwas getadelt zu werden. Wenn ich nicht damit rechnete, dass mich irgendwer kritisierte, dann war das Ganze doch nicht wichtig, oder? Ich würde einfach noch einmal klingeln, warum nicht? Ich vertippte mich an der Tür? Kein Problem. Ich legte mich mit Schuhen auf die Couch – na und?
Ich begriff, dass ich vieles nur tat, dass ich etwa meine Schuhe nur deshalb auszog, weil ich ihr keinen Vorwand liefern wollte, mich auszuschimpfen. In meiner Vorstellung war sie jemand, der wütend über mich herfiel, wenn ich ihre Couch dreckig machte. Aber wer war dieser Mensch, der da so sauer auf mich sein würde? Einer meiner Eltern? Ich selbst? Sie war es jedenfalls bestimmt nicht. Ihr war es piepegal, ob ich meine Schuhe anließ oder nicht.
Und dann wurde mir klar – schmerzhaft klar –, dass ich mich nicht nur so aufführte, wenn ich zu meiner Analytikerin ging. Meine alltäglichen Verhaltensregeln sind so frustrierend wie abartig. Antwortet jemand nicht sofort auf eine meiner Mails, fühle ich mich kritisiert. Fällt die Antwort ein wenig distanziert aus, ist es meine Schuld. Die meisten Grußfloskeln – ›mit freundlichen Grüßen‹, ›mit besten Wünschen‹ – halte ich für eine Zurückweisung.
Ich nehme fast alles persönlich. Ich fahre mit der U-Bahn und ergattere einen Platz – Sieg; ich kriege keinen Platz – Niederlage. Ich finde einen Parkplatz – Sieg; ich finde keinen – Niederlage. Der Handwerker kann gleich kommen – Sieg. In der Toilette bleibt eine Spur meiner Scheiße zu sehen – Niederlage. Anhand dieser kleinen und allerkleinsten Momente messe ich meinen Fortschritt in dem Kampf, der für mich das tägliche Leben bedeutet. Von Augenblick zu Augenblick ist mein Denken vollkommen und pausenlos banal.«
»Aber das ist doch gar nicht banal«, werfe ich ein.
»Nein, du hast recht. Ist es nicht, da diese kleinlichen Gedanken natürlich ein Muster aufweisen. Ich handelte stets in der Annahme, dass mich alle Welt ständig kritisierte. Und da diese Annahme meinem gesamten Tun zugrunde lag, fühlte ich mich eingesperrt. Diese vielen Augenblicke entsprachen nicht nur der Art und Weise, wie ich über mein Leben dachte – sie waren mein Leben.«
Tom schaute in seine Tasse. »Möchtest du noch einen Kaffee?«
Ich nickte.
Wir riefen nach dem Kellner und bestellten noch zwei Tassen. Dann fuhr Tom fort. »Nach und nach wurde deutlich, dass es nicht allein um Kritik, sondern um etwas viel Größeres ging. Ich dachte, mein Leben sei vom Wunsch bestimmt, gut leben zu wollen, doch fand ich heraus, dass ich vor allem sauber sein wollte. Das deutet sich schon in der Geschichte mit den Schuhen auf der Couch an. Für jeden anderen klingt das sicher verrückt, aber ich begann etwas zu erkennen, das für mich einen Sinn ergab.
Wie sich herausstellte, lag meinen Depressionen, meinen Gefühlen von Einsamkeit kein großes Trauma zugrunde. Da war nur mein unaufhörliches Prüfen und Analysieren, ein genaues Abstimmen, mit dem ich mich der Umwelt anpasste. In der Analyse lautete meine erste spontane Frage: Was will Dr. A.? Dieser Unsinn mit den Schuhen war der Versuch, mich dem anzupassen, was sie wollte. Aber wer weiß schon, was andere Menschen wollen? All dies Nachdenken über das, was andere Menschen wollen, ist doch nichts als Vermutung – Vermutung, Vermutung, Vermutung.
Ich halte mich eigentlich für ziemlich clever«, fuhr Tom fort. »In Wahrheit aber liege ich manchmal richtig und manchmal falsch. Die eigentliche Frage lautet
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