Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
doch: Sind wir Gefangene unserer Vermutungen oder sind wir’s nicht? Mir war gar nicht bewusst, dass ich annahm, Menschen wären von Grund auf darauf aus, Fehler finden zu wollen. Ich wusste nicht, dass ich ihnen grundsätzlich unterstellte, mich kritisieren zu wollen. Ich habe einfach geglaubt, die Menschen seien so; wie sich herausstellte, habe ich mich geirrt.«
Tom lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sagte: »Dr. A. hatte noch eine Einsicht für mich parat, für die ich nicht gewappnet war. Es stimmt zwar nicht immer, trifft aber in meinem Fall zu, dass derjenige, der fürchtet, kritisiert zu werden, oft selbst ziemlich kritisch veranlagt ist. Und sieh da – wie sich zeigt, bin ich ein kritischer Mensch, jemand der, falls er sich nicht selbst bemängelt, andere Leute kritisiert. Ich werde dich nicht damit langweilen, dir die abertausend Kleinigkeiten aufzulisten, die mit der Inneneinrichtung von Dr. A.s Büro nicht stimmen – oder mit Dr. A. selbst. Du kannst es dir vorstellen.«
Tom beugte sich vor und legte die Hände auf den Tisch. »Kennst du das englische Wort captious ?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Kannte ich auch nicht. Phantastisches Wort – so wird jemand genannt, der triviale Fehler bemerkt und ein großes Aufhebens darum macht. Ein pedantischer Fehlerfinder. Schwer zufriedenzustellen. Und? Klingt das vertraut? Kennst du so jemanden?« Er stellte die Tasse ab. »Ich glaube, für einen Analytiker war ich der reinste Albtraum.«
»Wohl kaum«, warf ich ein. »Für mich hört sich das eher so an, als hättest du genau das getan, was du tun solltest. Du bist zu ihr gegangen und hast ihr erzählt, wie du dich fühlst. Also nehme ich nicht an, dass es ihr schwergefallen ist, eine Stunde am Tag mit dir zu verbringen.«
»Danke«, sagte er, »aber das ist Quatsch.«
»Nein, ist es nicht«, erwiderte ich. »Ein Albtraum ist der Patient, der nicht sagt, was ihm durch den Kopf geht, der insgeheim säuft oder sein Kind schlägt, dir aber nichts davon erzählt, nichts davon erzählen kann .«
»Nicht darüber reden zu können ist sicher nicht mein Problem«, erwiderte Tom.
»Nein, du bist einer von der ehrlichen Sorte.«
»Ich wollte verhindern, dass meine Analyse scheitert.«
»Aber manche Leute wollen das. Denk an den Teenager, der aus der Schule fliegen soll. Woche um Woche, Sitzung um Sitzung, hockt er die ganze Stunde lang stumm da. Die Analytikerin verhält sich richtig, bietet dem Jungen durchdachte und wahre Deutungen der Gründe, warum er nicht mit ihr sprechen will. Trotzdem lässt er sich zu keiner Mitarbeit bewegen. Gut möglich, dass der Junge ein Scheitern seiner Therapeutin braucht, damit er glauben kann, dass es jemanden gibt, der noch nutzloser als er selbst ist.«
Tom nickte. »So bin ich nicht, aber ich kann durchaus negativ sein.«
»Sie wurde dafür ausgebildet, über deine Negativität nachzudenken, und genau das hat sie getan. Aber gut, treiben wir dein Problem noch ein wenig weiter – ein maßlos negativer Patient. Stell dir jemanden vor, der so dünnhäutig ist, dass er nahezu alle Kommentare des Analytikers – ob wahr oder unwahr und wie behutsam auch immer vorgebracht – für einen Angriff auf die eigene Person hält. Selbst das Schweigen des Analytikers klingt in seinen Ohren wie ein Vorwurf. Oder er schaut sich ständig prüfend im Zimmer um, weil er etwas finden will, woran dem Analytiker gelegen ist – Schnittblumen, Bilder an der Wand, Bücher –, um dann Tag für Tag darüber herzuziehen. Das nenne ich einen schwierigen Patienten.«
»Und was machst du, wenn du einen solchen Patienten hast?«
»Ich sehe ihn vermutlich als Ersten.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst. Ich rate meinen Studenten, nicht allzu viele solcher Patienten anzunehmen und sie gleich morgens in der Frühe zu sehen, da sie sich dann nicht so leicht reizen lassen.«
»Aber muss man das Gesagte nicht einfach persönlich nehmen?«, fragte Tom.
»Sicher, ich lasse mich reizen, ärgere mich, finde aber hoffentlich heraus, warum der Patient diesen Ärger braucht. Meine Aufgabe ist es zuzuhören und das Gehörte dann mit meinen emotionalen Reaktionen abzugleichen – so wie beim Teenager. Er wollte, dass seine Analytikerin sich ärgert und wie eine Versagerin fühlt, dass sie begriff, warum es ihm wichtig war, sie scheitern zu sehen.«
Tom nickte.
Ich fuhr fort: »Du hast deine Kritik an Dr. A. vorgebracht, und sie hat sie mit dir durchgearbeitet. Wirklich besorgniserregend aber ist
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