Schwanengrab
Kapitel 1
Eine Wahl? Für mich gab es die nicht! Sonst hätte ich mir sicher einen anderen Ort ausgesucht, an dem ich diesen Morgen verbringen wollte. Nervös starrte ich auf die große weiße Tür, an der der Lack stellenweise bereits absplitterte. Irgendjemand hatte einen ziemlich blöden Spruch darin eingeritzt. An der Wand daneben hing ein kleines graues Schild mit der Aufschrift: 9a, Klassenlehrer: Thomas Simon.
Ich atmete tief durch und spürte den Blick des Mannes, der neben mir stand. Er war sehr bleich und wirkte müde. Eigentlich sah er so aus, wie ich mich fühlte – als wäre ihm schlecht. Später dachte ich oft darüber nach, was wohl geschehen wäre, wenn ich vor einer anderen Tür gestanden hätte. Vor einer anderen Klasse, in einer anderen Schule. Aber geschehen ist geschehen, und nun befand ich mich hier und alles um mich herum schien ruhig zu sein, zumindest konnte ich nichts hören. Es war ja auch schon 8.30 Uhr. Die Stunde hatte längst begonnen.
»Also dann, Samantha«, sagte Herr Kurz, der Schulleiter, und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Dann wollen wir mal.«
Nein! , dachte ich und nickte.
Er klopfte energisch und trat dann ein, ohne eineAntwort abzuwarten. Am liebsten wäre ich auf der Stelle umgedreht und wieder nach Hause marschiert. Nur, wo genau war das eigentlich? In Berkeley oder hier in Trier?
Widerwillig folgte ich Herrn Kurz in den großen, hellen Raum. Ich musste mich gar nicht umsehen, ich spürte es auch so, dass alle mich anstarrten. Die Neue! Ein Raunen ging durch die Klasse. Direkt vor mir steckten zwei Mädchen die Köpfe zusammen. Auch in den Reihen dahinter begannen alle miteinander zu flüstern. Einige Jungs blickten mich an, als käme ich von einem anderen Stern, und in der hintersten Bank saß ein Mädchen mit kurzen, blond gefärbten Haaren und starrem Blick. Mit offenem Mund sah sie mich an, als hätte ich einen hühnereigroßen Pickel auf der Nase. Mein Gesicht wurde heiß, wahrscheinlich war es krebsrot. Auch das noch!
Herr Simon, der Klassenlehrer, legte die Kreide zur Seite und kam mit riesigen Schritten auf mich zu. Er wirkte sportlich, nicht sonderlich alt, aber auch nicht mehr ganz jung, und war mindestens zwei Köpfe größer als Herr Kurz (was für ein passender Name). Im Verhältnis zum Schulleiter, auf dessen schütterem Haar sich bereits ein deutlicher Kranz abzeichnete und dem das graue Sakko viel zu weit und zerknittert von den Schultern hing, sah Herr Simon aus, als wäre er gerade einer Modezeitschrift entsprungen. Von den hellblonden Haarspitzen bis zu den polierten Schuhspitzen war er top gestylt: perfekt sitzende Jeans, Gürtel, Poloshirt, Pullover lässig um die Schultern gebunden. Bei seiner Frisur schien er nichts dem Zufall zu überlassen, auch nichtbei seiner sonnengebräunten Haut. Er zerquetschte fast meine Hand, als er sie heftig schüttelte: »Samantha, schön, dass du zu uns kommst«, sagte er freudig und grinste das breiteste Lächeln, das ich je gesehen hatte. Für Zahnpasta-Werbung wäre es ideal gewesen.
Wieder ging ein Raunen durch den Raum. Herr Simon hob die Hand. In den Sekunden, bis es ruhig wurde, kam ich mir vor wie auf einem kalifornischen Rindermarkt. Es fehlten nur noch die Kellen mit den Wertungspunkten.
Nach einer Ewigkeit war es Herrn Simon endlich ruhig genug.
»Also, hier ist Samantha Marquard. Ich habe euch ja bereits von ihr erzählt. Samantha ist fünfzehn Jahre alt, sie wohnte bis vor einer Woche noch in Berkeley, in der Nähe von San Francisco. Das liegt im Westen der USA – für die, die es nicht wissen!«
Wieder Flüstern. Warum konnte ich mich nicht einfach in Luft auflösen?
»Samantha ist mit ihrem Vater nach Deutschland zurückgekehrt. Sie spricht perfekt Deutsch, denn ihr Vater wurde hier geboren. Ihre Mutter ist ... ähm ... war Amerikanerin. Ich erwarte von euch, dass ihr euch um Samantha kümmert und ihr alles zeigt, wie besprochen.« Tuscheln von rechts. Herr Simon räusperte sich. »Samantha, du wirst dich sicherlich schnell bei uns einleben. Setz dich doch dort neben Carolin, da ist noch ein Platz frei ... Caro!« Er deutete zu dem Mädchen mit den kurzen weißblonden Haaren.
Caros Seufzer konnte man bis ganz nach vorne hören. Genervt machte sie die eine Tischhälfte für mich frei. Wieder redeten alle leise miteinander. Ich vermied es, die vielen Gesichter direkt anzusehen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf das Tischbein in der hintersten Reihe und steuerte direkt darauf
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