Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
erwiderte seine Umarmung.
Einen Moment lang blieben wir noch auf dem Bürgersteig stehen. Tom wies die Anhöhe hinauf zum Postamt und zu den Geschäften. »Gehst du rauf oder runter?«
»Runter, in die Praxis.«
Ich sah ihm nach, wie er die Straße hinaufging und die U-Bahn-Station betrat, doch noch während ich da stand, überkam mich ein vertrautes Gefühl, eine Unruhe, wie sie mich manchmal ergreift, wenn ein Patient die Praxis verlässt und ich den Eindruck habe, dass wir das eigentliche Thema der Sitzung nur gestreift hatten. Ich spürte, dass ich meinem Patienten und mir selbst nicht gerecht geworden bin und wollte die letzte Stunde ungeschehen machen, wollte die Sitzung noch einmal beginnen, die gerade zu Ende gegangen war. Nur war Tom nicht mein Patient, und dies war keine Therapiestunde gewesen. Wir waren nur zwei alte Freunde, die zusammen Mittag gegessen hatten. Trotzdem machte es mir zu schaffen, dass weder Tom noch ich direkt über das geredet hatten, was von ihm das ›Wesentliche‹ genannt worden war – wir hatten beide nicht das Wort Liebe in den Mund genommen.
Auch nachdem er aus meinem Blickfeld gegangen war, dachte ich noch über unser Gespräch nach, über Einzelheiten – Toms Schweißgeruch, der Schmutz an seinen Schuhen, aber auch daran, wie sehr sich sein Selbstbild von dem Bild unterschied, das ich von diesem großen, sanften, kultivierten Mann hatte. Ich dachte daran, wie sehr er fürchtete, man könne ihn schmutzig finden, innerlich zerbrochen, sobald sich herausstellte, wie er seiner Meinung nach wirklich war. Und wenn er schmutzig wäre, innerlich zerbrochen – wie konnte er da lieben? Wie geliebt werden?
Zurückgehen
Zum achtzigsten Geburtstag meines Vaters organisierte ich, gemeinsam mit meiner Frau, eine Reise nach Ungarn. Wir wollten von Budapest aus in die Karpaten fahren und alle wichtigen Orte seiner Kindheit aufsuchen: das Haus, in dem er geboren wurde, die Grundschule, den Hof der Großeltern und die umliegende Gegend.
Über eine Website zur Ahnenforschung fand ich einen Mann namens Alex Dunai, einen Fremdenführer aus dem ukrainischen Lvov, der sich einen gewissen Ruf darin erworben hatte, lang vergessene Dörfer aufzuspüren. Alex arbeitete, halb Detektiv, halb Übersetzer, oft mit Leuten zusammen, deren Eltern im Zweiten Weltkrieg vertrieben worden waren. Während meine Frau und ich versuchten, auf einer aktuellen Karte jene Orte zu entdecken, an die sich mein Vater erinnern konnte – Orte, deren Namen sich mit den neuen Grenzverläufen der Länder geändert hatten – tauschten Alex und ich E-Mails aus, in denen wir unsere Route festlegten. Basierend auf dem wenigen, was mein Vater mir über das Dorf seiner Kindheit erzählen konnte, kamen Alex und ich überein, dass es vermutlich am besten wäre, mit unserer Reise in Mukatschewe zu beginnen.
An einem Nachmittag Ende Mai trafen wir im Hotel Langer in Mukatschewe ein. Die Stadt gehört heute zur Ukraine und liegt etwa 350 Kilometer östlich von Budapest. Es war heiß und staubig, ein fliegender Händler vor dem Hotel verkaufte getrocknete Pilze und gelbe, auf Schnüren aufgezogene Kirschen. Die Straßen waren voll, doch im Hotel schienen wir die einzigen Gäste zu sein.
Mein Vater schlug vor, die Koffer auf den Zimmern abzustellen und einen Spaziergang zu machen. Wir folgten ihm, erst zur Stadtmitte, dann durch eine Reihe kleinerer Nebenstraßen. Er schritt zügig aus und redete kaum. Da ich aber spürte, wie vertraut ihm dieser Ort war, ließ ich ihn gehen, wohin er wollte. Während wir darauf warteten, eine Straße überqueren zu können, erzählte mein Vater, er habe von seinem vierzehnten bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in Mukatschewe bei einer Witwe in Pension gewohnt, einer Frau namens Anna Teichmann, und sei hier zur Schule gegangen. Anna hatte in einem Haus direkt gegenüber der katholischen Kirche gewohnt, und er teilte sich ein zugiges, L-förmiges Zimmer hinter der Küche mit seinem Vetter Eugene; die Schularbeiten erledigte er meist im Sitzen auf dem Bett. Dann fiel ihm noch ein, dass er und Eugene die Turmspitzen eines Schlosses vom Fenster aus sehen konnten. Er war auf das nahegelegene, russische Gymnasium gegangen und jeden Freitag mit dem Bus zurück nach Hause gefahren.
Als die Sonne versank, kamen wir zu einem kleinen Platz am Fluss. Mein Vater führte uns zu einem niedrigen, einstöckigen Haus gegenüber der Kirche. Neben dem Haus war das Tor zu einem Hof, auf dem eine ältere Frau
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