Die Frau die nie fror
Kliffs aufgeschaut, wo wir uns jetzt zu dritt zwischen die Felsen drängen. Ich werde mutig und baue das Stativ auf dem niedrigsten Level auf. Parnell hält die Handkamera bereit. Die Sonne steht tief, wirft ein rosarotes Licht. Das Meer ist dunkler und im Wind kabbeliger geworden. Weit draußen auf dem Meeresarm treiben Eisschollen vorbei wie unförmige Schwäne, und flaches Packeis, dicht am Ufer, schimmert hellblau.
Martin sucht den Horizont ab und schüttelt den Kopf. »Hier oben sind keine Wale.«
Der Inuit im Heck des Motorbootes hat seinen Feldstecher die Küste hinauf gerichtet. Jetzt hebt er zögernd den rechten Arm zum Himmel. Er verharrt, dann senkt er den Arm langsam wieder und zeigt in die Richtung, wo er etwas zu sehen glaubt. Das Motorboot, die orangen Dingis und Kajaks schwärmen auf dem Wasser aus, bis sie im Abstand von knapp dreißig Metern eine weitgeschwungene Linie eingenommen haben, die aus dem Meeresarm in die geschützte Bucht führt. Das dritte orangefarbene Beiboot ist inzwischen aufgepumpt und wird zu Wasser gelassen. Alan Stempel steigt hinein und paddelt zu einer noch weiter entfernten Position an der Mündung der Bucht.
Es ist unmöglich zu erkennen, worauf sie aus sind. Parnell, Martin und ich warten gespannt und schweigend.
Schließlich sieht es so aus, als würde das dunkle Wasser des Meeresarms unter der Oberfläche aufgewühlt, und der Inuit-Mann gibt ein weiteres Zeichen. Die Maschine des Motorboots startet kreischend mit höchster Drehzahl, aber das Getriebe ist offensichtlich im Leerlauf, denn das Boot bewegt sich nicht. Ekborg, Lawler und Stempel nehmen die Aluminiumpaddel ihrer Dingis, senken sie ins Meer und schlagen mit kurzen Metallrohren gegen sie. Das aufgewühlte Dunkle unter der Wasseroberfläche ändert den Kurs, um die Boote zu meiden, und bewegt sich in die Bucht hinein. Dort wird es schließlich langsamer, hält dann anscheinend inne und wird zu einer großen schwarzen Masse unter Wasser, die um die Galaxy herum ein chaotisches Muster aus sprudelnden Wellen erzeugt.
Als die Aufwühlung in der Nähe der Galaxy intensiver wird, durchbohren zwei bis drei Meter lange, schraubenförmig gedrehte Zahnstocher die Wasseroberfläche in unterschiedlichen Winkeln, manche dicht über dem Wasser, andere mit fast neunzig Grad. Sie zeigen in verschiedene Richtungen, heben und senken sich ohne erkennbare Antriebskraft.
»Narwale«, sagt Martin, in dessen Stimme eine Mischung aus Gewissheit und Fassungslosigkeit mitschwingt. »Ihre Herbstwanderung. Sie verlassen die küstennahen Gewässer Richtung Tiefsee. Eine Herde kann Hunderte von Tieren umfassen. Sogar noch mehr, habe ich gehört. Manchmal sind es Tausende.« Martin ist erregt. »Narwale arbeiten mit Echoortung. Der Lärm der Motoren und das Schlagen auf die Rohre ist eine Qual für sie. Ich garantiere, dass sie in diesem Augenblick nichts anderes wollen, als um Himmels willen so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Aber sie können die Richtung nicht ändern. Es folgen zu viele nach.«
Also wählen sie den einzigen Weg, der ihnen bleibt – in die Bucht hinein. Eine anhaltende, aufgewühlte Welle von Tieren zieht unter unserem Kliff vorbei. Sie schwimmen schnell, die Leiber drängeln und berühren sich fast. Sie sind weiß, schwarz und grau. Marmoriert und gefleckt. Sie haben wenig ausgeprägte Schnauzen und schnittige Schultern. Es sind auch Kälber dabei, die sich alle Mühe geben mitzuhalten. Die riesigen Stoßzähne der Männchen zittern im brechenden Wasser wie hineingestoßene Excalibur-Schwerter. Ich habe meine Kamera auf sie gerichtet, und Parnell lässt seine über die Bucht und den Meeresarm bis zu der Stelle wandern, wo er an einem breiten braunen Kiesstrand ausläuft ähnlich dem, wo wir gelandet sind.
»Sie könnten die Kajaks mühelos zum Kentern bringen.« Parnell klingt frustriert, weil sie es nicht tun. Er hat recht. Die größten Wale messen wahrscheinlich fünf Meter, zwei Tonnen Muskeln und Walspeck. Die längsten Stoßzähne sind so lang, wie ein Mensch groß ist, und so dick wie ein Laternenpfahl, schraubenförmig gewunden und zur Spitze hin zulaufend.
»Aber das werden sie nicht tun«, sagt Martin. »Die Narwale sind richtig gut darin, sich von Menschen fernzuhalten. Dieses Verhalten werden sie auch jetzt nicht ändern. Mein Volk jagt sie seit Tausenden von Jahren, normalerweise während ihrer Wanderungen, wenn sie immer etwa zur gleichen Zeit an den gleichen Orten vorbeikommen.
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