Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
Vom Netzwerk:
sein, als ich den Schlüssel das erste Mal hineingesteckt habe. Der Eindringling hat das Schloss geknackt, um einzubrechen, er oder sie hatte aber keinen Schlüssel, um hinter sich wieder abzuschließen.
    Ich gehe nach nebenan und frage meine Nachbarin, ob sie jemanden gesehen hat. Sie misstraut jedem und ist bekannt dafür, dass sie der Polizei Autos meldet, die zu lange im Leerlauf auf der Straße stehen. Sie verneint. Dann verengen sich ihre Augen, und sie schiebt ihre Tür ein paar Zentimeter weiter vor. Sie misstraut selbst mir.
    Ich rufe den Hausmeister an und erzähle ihm, jemand sei in meiner Wohnung gewesen. Im Hintergrund läuft ein Baseballspiel, so laut, dass wir brüllen müssen. Er antwortet, ich soll die Bullen rufen. Was ich tue. Sie schicken eine Streife.
    Während ich warte, verfolge ich meine Schritte zurück, kon­trolliere noch einmal alle meine Wertsachen. Es fehlt nichts. Vielleicht irre ich mich bei dem Adlerholzbaum, aber ich könnte schwören, dass ich immer noch Spuren davon riechen kann.
    Ich frage mich, ob jemand heute Nachmittag meine Wohnung beobachtet und gesehen hat, wie ich gegangen bin. Vielleicht jemand, der immer noch da draußen ist. Ich schleiche mich zum Fenster. In der Tappan Street parken die Autos parallel zum Bordstein. Ein Pärchen schlendert vorbei. Ein Kind auf einem Skateboard. Junge Mädchen mit langen Haaren und voluminösen Schals. Werde ich ab jetzt so leben und alles wie ein Habicht beobachten? Ich gehe in den hinteren Teil meiner Wohnung, wo man vom Badezimmerfenster aus den Parkplatz überblickt. Spähe durch die Jalousie. Autos, die üblichen Autos. Das ist alles.
    Die Bullen mit ihren breiten Schultern und Bierbäuchen und zugeklappten Lederhalftern füllen die Wohnung fast aus. Handschellen, Taschenlampen und Gummiknüppel klappern an ­ihren Gürteln. Laute, heisere Stimmen. Hey, machen Sie sich keine Gedanken. So was passiert. Als würden sie mich schon seit Jahren kennen. Sie laufen überall herum und sind einfach nur groß und stark. Fassen nichts an, machen sich ein paar frei erfundene Notizen. Für sie ist es nur ein Einsatz von vielen.
    »Haben nichts mitgenommen, was?«, fragt einer von ihnen.
    »Nein.«
    »Sicher, dass jemand hier war?«
    »Da war ein Geruch«, antworte ich. »Adlerholz.«
    »Was?«
    »Ich kenne mich mit Duftstoffen aus. Ich kann sie unterscheiden.«
    »Was für ein Holz?«
    »Adlerholz.«
    »Mhm-mh.« Sie wechseln Blicke. Der Notizblock wird in eine Tasche gestopft. Jetzt sind sie überzeugt, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe. Sie raten mir, die Schlösser auszuwechseln, und lassen dann die Tür hinter sich weit offen, als sie gehen.
    *
    Ich habe mich früher sonntagmorgens oft ins Schlafzimmer meiner Eltern geschlichen und meiner Mutter beim Schlafen zugesehen. Milosa ist gewissenhaft um fünf Uhr morgens aufgestanden und in sein Leben verschwunden. Deswegen lag Isa allein in ihrem riesigen Doppelbett, bis sie gegen zwölf oder ein Uhr mittags aufstand. Die Woche über war sie beschäftigt gewesen, ein ständiges Kommen und Gehen, meistens Gehen, ein Wirbelwind am frühen Morgen und bis spät in die Nacht. Der Sonntagmorgen war eines der wenigen Male, die sie an einem Ort blieb. Sie schlief auf eine unbeholfene, fast aggressive Art in einem wilden Durcheinander aus Laken.
    Arbeit und Schlaf, Arbeit und Schlaf. Das war ihr Rhythmus. Keine Zwischenstufe, keine Übergangsphase. All das änderte sich jedes Jahr Ende Juni am Vorabend der Sommersonnenwende. Es war Jaaniõhtu, ein Nationalfeiertag in ihrer Heimat Estland, und meine Mutter wählte immer diesen Tag, um ihre einmonatigen Sommerferien zu beginnen. In Estland haben die Geschäfte und Unternehmen geschlossen, und die Menschen versammeln sich draußen um Lagerfeuer, die die ganze Nacht brennen, wo sie singen, tanzen und trinken. Die einsamere amerikanisierte Version dieses Feiertages bestand für meine Mutter darin, mit mir nach St. John’s auf Neufundland zu fliegen und von dort zuerst mit der Fähre und dann mit einem Mietwagen die Küste von Labrador hinaufzufahren, zu einem abgelegenen Haus am Strand, nicht weit entfernt von der Hudson Strait. Das Haus war von seinem Besitzer entworfen worden, einem Architekten aus Montreal, der dort jedes Jahr im August mit seiner Familie Ferien machte und es im Juli an meine Mutter vermietete. Es lag so weit nördlich, dass wir Jacken und Pullover trugen, die Sonne erst gegen neun, zehn Uhr unterging und über den Nachthimmel

Weitere Kostenlose Bücher