Die Frau die nie fror
hinaus. Ich gehe an einem glänzend roten Lexus vorbei, steige in meine alte Karre und fahre los. Ich denke, wenn’s auch sonst nichts gebracht hat, zumindest bin ich bei Milosa fein raus: Johnny hat die Sam-Spade-Nummer abgezogen, also muss ich das nicht tun. Das ist, irgendwie, eine Erleichterung.
Auf der Schnellstraße bleibe ich im Feierabendverkehr stecken. Ich versuche, bei der Musik von Akiko Grace abzuschalten, meinem Lieblings-Jazzpianisten. Aber heute schafft es diese wundervolle Musik nicht, mich auf andere Gedanken zu bringen. Als der von Sister Corita bemalte Gastank in Sichtweite kommt, taucht vor meinem geistigen Auge sehr lebhaft das Bild eines Typen auf, der in einer miesen Kaschemme sein Herrengedeck wegknallt und dann wie ein Besessener lacht. So zufrieden mit sich und seiner sagenhaften Karriere. Glaubt, er wäre damit durchgekommen, ein kleines Fischerboot in seine Einzelteile zu zerlegen und die Menschen darin in panischer Angst auf den Wellen schaukeln zu lassen, bis sie untergingen. Meine Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Es ist ihm wahrscheinlich gar nicht in den Sinn gekommen, dass jemand überleben könnte.
Kapitel 8
A lles ist an seinem Platz, nichts ist bewegt worden. Die letzten Sonnenstrahlen fallen schräg durch den Lamellenvorhang, so wie sie’s normalerweise an einem Abend im September tun – lange, honiggoldene Strahlen malen ein Gitter auf Teppich und Couchtisch. Und doch. Irgendetwas ist anders. Ein dezenter Geruch hängt in der Luft. Kaum wahrnehmbar. Es riecht nach Holz, aber auch ein wenig säuerlich. Eine Duftnote, die in meiner Wohnung fremd ist.
Jedes Zuhause hat einen Geruch – eine einzigartige, aromatische Mischung aus männlichen und weiblichen Bewohnern, Teppichen, schmutziger und sauberer Wäsche und den Gerichten, die die Familie immer und immer wieder isst. Selbst das Gras und die Bäume vor den Fenstern tragen dazu bei. Kinder wissen das besser als jeder andere. Wenn es müsste, könnte ein Kind sein eigenes Zuhause allein anhand des Geruchs erkennen. Diese Sensibilität stumpft mit der Zeit ab. Das Kind hört auf, seiner Nase zu vertrauen, und benutzt sie irgendwann gar nicht mehr. Die Augen und Ohren übernehmen, während unser primitivster Sinn, der Geruchssinn, den Tieren überlassen wird. Außer, die Mutter war Parfümeurin und hat einem beigebracht, dass alles und jedes einen eigenen Geruch hat, genauso wie es unterschiedlich aussieht, klingt oder sich anfühlt – und dass von allen Sinnen der Geruchssinn derjenige ist, der einen höchstwahrscheinlich nie an der Nase herumführt.
Deshalb bin ich so sicher, dass jemand in meiner Wohnung war. Wenn er ein wenig länger geblieben oder erst vor kurzem hier gewesen wäre, würde ich ein paar Vermutungen über die Zusammensetzung seines Eau de Cologne anstellen. Aber im Moment kann meine Nase nur ein paar der letzten, großen, hartnäckigen Moleküle einer tiefen Basisnote ausmachen. Ich nehme an, Adlerholz oder Eichenmoos; häufig eingesetzte Duftbausteine, die mir noch nicht einmal etwas über das Geschlecht des Trägers verraten. Ich schließe meine Augen und versuche es erneut. Es ist Adlerholz. Ja, ich bin mir sicher: dunkel, weich, würzig, nach Medizin. Der Duft südasiatischer religiöser Rituale. Um Adlerholzöl herzustellen, wird Harz von Bäumen geerntet, die mit einem parasitären Schimmelpilz infiziert sind – das destillierte ätherische Öl ist legendär für seine Intensität und Langlebigkeit. Entweder liebt man Adlerholz, oder man hasst es; und der Duft ist unverwechselbar.
Computer auf dem Schreibtisch. Laptop im Schrank. Alles genau so, wie ich es verlassen habe. Was könnte man noch mitnehmen? Ich gehe ins Schlafzimmer. Mein Schmuckkasten ist unberührt. Wenn es kein Diebstahl war, was war es dann?
Plötzlich bekomme ich Panik bei der Frage, wie überhaupt jemand hereinkommen konnte. Ich wohne im zweiten Stock. Es gibt eine Eingangstür, einen Nebeneingang und eine Feuerleiter. Die Kette vor dem Nebeneingang ist intakt. Die Feuerleiter ist alt und rostig und kann gar nicht benutzt werden, ohne dass das halbe Haus es mitbekommt. Dann fällt mir ein, dass ich beim Nachhausekommen an der Wohnungstür herumgefummelt habe – dachte, ich hätte sie aufgeschlossen, aber sie schien zu klemmen. Also habe ich ein paarmal auf- und wieder zugeschlossen, bevor sich der Riegel tatsächlich zurückschob. Die Tür muss unverschlossen gewesen
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