Die Frau die nie fror
erinnere mich an das Entzücken meiner Mutter, wann immer wir ein Stück fanden. Obwohl es selten vorkam, gibt es wahrscheinlich keinen besseren Ort, um Ambra zu sammeln, als Hopedale. Sein Inuit-Name Agvituk bedeutet »Ort der Wale«.
Hinzu kamen all die Essenzen, die meine Mutter von zu Hause mitgebracht hatte – Jasmin, Tuberose, Weihrauch, Bergamotte, Süße Orange und andere, die ich gar nicht alle aufzählen kann –, ordentlich in der Küche aufgereiht, in Glasfläschchen, fest verkorkt. Voilà : eine Parfümerie. Aber so haben wir es nie genannt. Die Küche war einfach nur das Lieblingslabor meiner Mutter, wo sie mit hoher Konzentration und einer tiefen, ruhigen Leidenschaft arbeitete, die sie während der restlichen Monate des Jahres nicht zeigte. Zurückblickend wird mir klar, dass es Freude war.
In einem dieser Sommer meiner Kindheit wurde L’Amour du Nord geboren. Ein Duft ist schwer zu beschreiben. In Farben ausgedrückt, würde man sagen: tiefe Blautöne und Weiß, mit einem Hauch Magenta und Neongrün. Würde man ihn mit einem Erlebnis beschreiben wollen: in einen dicken Pelzmantel gehüllt in der nasskalten Dämmerung über ein Schneefeld auf das bronzene Licht einer weit entfernten Hütte zugehen. In der Sprache der Chemie: Beta-Selinen trans-p-Mentha-1(7),8-dien-2-ol und weitere Substanzen, deren Schreibweise so kompliziert ist wie ihre molekulare Struktur. Mit Hilfe von Kleidungsstücken: ein Spitzenslip und ein roter Lederhandschuh. In den Lauten der Liebe: Mmmmm , bis es aufhört zu sein.
Isa hat immer gesagt, L’Amour du Nord sei der Duft eines Ortes. Wann immer ich mich allein fühle oder traurig bin, gebe ich ein paar Tropfen dieses Parfüms auf die Innenseite meines Handgelenks und lasse mich davon nach Hause zurückbringen.
Kapitel 9
D er Empfangstresen schwebt über schimmerndem, weißem Linoleum. Der sagenumwobene Sonnenschein Floridas fließt durch makellose Fenster herein, die vom Boden bis zur Decke reichen und zweifellos schon vielen Vögeln zum Verhängnis geworden sind. Eine Frau im Bleistiftrock und maßgeschneidertem Blazer begrüßt mich. Sie hat ein breites Kreuz, dank Epauletten, ihr schönes, blondes Haar ist unter dem Rand ihrer Navy-Kappe zu einem weichen Knoten geschlungen. Als ich mich vorstelle, entblößt ihr Lächeln eine Reihe perlweißer Zähne in Kindergröße, mit einer leichten Spur von Schärfe an den Eckzähnen.
Die cleane, seltsam stille Umgebung bringt mich etwas aus der Fassung, was mich paradoxerweise davon überzeugt, dass hier sehr viel passiert, aber unter der Oberfläche, hinter den Wänden, auf der anderen Seite der Türen, an denen wir nun vorbeigehen, wobei unsere Absätze klackern wie zwei asynchrone Metronome. Als wir endlich Commander Stockwells Büro erreichen, hat meine Kampf-oder-Flucht-Reaktion ordnungsgemäß den Ausgang eines Kampfes in Erwägung gezogen und sich resolut auf die Seite von Flucht geschlagen. Aber es ist zu spät, um wegzurennen. Die präsentable Empfangsdame verschwindet und lässt mich in einem geräumigen Büro zurück, wo ich mir eingesperrt vorkomme. Wenn ich tatsächlich Commander Stockwells Vorstellung einer bionischen Frau entspreche, dann sollte sie beunruhigter sein, als sie wirkt.
Sie begrüßt mich mit einem offenen Lächeln und erhebt sich hinter ihrem von Fahnen flankierten Schreibtisch. Hellbrünettes Haar, praktischer Schnitt, robuster Stand, Mitte fünfzig. Kurze, trockene Finger, die genau im richtigen Maß kräftig, aber herzlich zudrücken, als sie sich um meine Hand schließen. In Zivil könnte sie die Mutter einer Schulfreundin sein, die, die mehr Spaß bei den Pfadfinderinnen hatte als die Mädchen selbst. Im Moment spult sie eine nette Gastgeber-Routine ab, stellt Fragen über meine Reise, meine Unterkunft und wie es mir nach dem Unglück geht. Vergnügt erzählt sie von den touristischen Attraktionen ihrer Stadt. Ich müsse mir unbedingt Ripley’s Believe It or Not- Museum ansehen. Die weißen, sandigen Strände seien einzigartig und der Ozean sei schon als smaragdgrün beschrieben worden. Sie ist liebenswürdig , kein anderes Wort charakterisiert sie besser, und dennoch bin ich nicht entspannt. An jeder Zufahrt zu diesem Gelände gibt es bewachte Tore (beim Betreten wurde ich gründlich durchsucht), und die ganze Zeit, die sie redet, höre ich eigentlich dies: Willkommen in meinem Kriegspalast, wo man sich gut um dich kümmern und dich sorgfältig im Auge behalten
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