Die Frau die nie fror
wird.
Wir sitzen einander gegenüber, lächeln wie dickste Freundinnen, und sie beginnt, wie alle, die wissen, wie man überzeugt, mit einer Geschichte:
24. März 1999. Marine Corps Physical Fitness Academy, Maryland. Sieben Elite-Marinesoldaten, alle ausgebildete Wasser-Überlebenstrainer, kentern, während sie in einem Kriegskanu über den Potomac River paddeln. Sie haben Sitzkissen, aber keine Schwimmwesten. Die Wassertemperatur beträgt drei Grad Celsius. Innerhalb von Minuten sind alle sieben Mann ertrunken, ungefähr achtzig Meter vom Ufer entfernt.
28. Oktober 2005. Sebasticook Lake, Maine. Zwei Erwachsene und ein zwölfjähriges Mädchen, alle in Schwimmwesten, kentern, während sie in fünfzehn Grad Celsius paddeln, in Sichtweite anderer Bootsfahrer. In der Zeit, die die Retter benötigen, um sie zu erreichen, ertrinken alle infolge der Unterkühlung.
3. Februar 2008. Congaree River, South Carolina. Ein Mann der freiwilligen Feuerwehr, der als sehr erfahren beschrieben wird, fällt wegen einer kleinen Welle aus seinem Kajak, bemüht sich, wieder hineinzuklettern, wird aber in weniger als dreißig Sekunden unter Wasser gezogen. Sein gesunkenes Boot wird vier Tage nach dem Unfall mit Enterhaken geborgen. Seine Leiche wird nie gefunden.
Commander Stockwell dreht ihren Computerbildschirm zu mir und spielt ein YouTube-Video ab, in dem eine junge Frau, bekleidet mit einem Badeanzug, Badekappe und Schwimmbrille, einen Kopfsprung von einem Ruderboot aus ins von Eisschollen bedeckte Meerwasser macht. Im Hintergrund, es könnte die Antarktis sein, türmen sich blaue Gletscher auf. Die Sonne hängt als bleiche Scheibe tief über dem Horizont, als die Schwimmerin auftaucht und zu kraulen beginnt.
»Lynne Cox«, erklärt Stockwell. »Fünfundvierzig Jahre alt, als dieses Video 2002 aufgenommen wurde. Als erster Mensch schwimmt sie eine Meile in Eiswasser. Die meisten wären innerhalb von fünf Minuten tot; sie blieb fünfundzwanzig drin. Davor hat sie die Strait of Magellan, die Cook Strait in Neuseeland, das Kap der Guten Hoffnung und die Beringsee bezwungen. Wenn man sie fragt, warum sie das macht, kann sie es nicht sagen.
Und dann ist hier noch dieser Mann«, sagt sie und schiebt mir ein Foto herüber. Der hübsche Bogen eines fast nackten Mannes, aufgenommen im Flug, als er von einer Eiskante ins Meer springt. »Lewis Gordon Pugh. 2007 hat er eine Strecke von 0,62 Meilen bei minus 1,7 Grad Celsius kaltem Wasser am geographischen Nordpol durchquert. 2010 durchschwamm er den anderthalb Grad Celsius kalten Lake Pumori, einen Gletschersee am Mount Everest.« Sie macht eine Pause. »Wissen Sie, warum Sie hier sind, Ms Kasparov?«
Ich nicke. Ich habe es verstanden.
»Die Navy verwendet einen Großteil ihrer Ressourcen für die sorgfältige Auswahl und das Training von Mitarbeitern für spezielle Unterwassereinsätze. Wir müssen wissen, warum manche Menschen, unabhängig von ihrem Trainingsgrad, in kaltem Wasser schnell einer Hypothermie erliegen, während andere sich anpassen und ihre Aufgaben erfolgreich erledigen.« Sie schiebt das Foto von Lewis Gordon Pugh mit einer Spur Verachtung zur Seite, als wäre sie froh, mit ihrer effekthascherischen Eröffnungsrede durch zu sein. »Wir wissen natürlich schon sehr viel. Das Risiko von Hypothermie erhöht sich erheblich, wenn niedrige Temperaturen und Feuchtigkeit zusammenkommen. Und zwar deswegen, weil Wasser die Körperwärme siebzig Mal effizienter abtransportiert als Luft. In sehr kaltem Wasser wird dem Körper die Wärme mit gefährlich hohem Tempo entzogen. Die Kerntemperatur muss nur auf fünfunddreißig Grad fallen, nur wenig unter normal, bevor die Unterkühlung einsetzt.
Die meisten Menschen haben zusätzlich den Reflex, dass sie nach Luft schnappen, vollkommen ungewollt. Die unweigerliche Folge ist eine massive Hyperventilation. Selbst Pugh kann dem nicht ausweichen. Er berichtet, dass schluckweise Eiswasser seine Kehle hinunterrauscht, wenn er das erste Mal eintaucht. Aber dank langer Übung ist er in der Lage, seinen Kopf dann wieder über Wasser zu bekommen und langsam seine Atmung zu beruhigen. Die meisten Menschen empfinden den Schock des Eintauchens als so verwirrend, dass ihnen diese Form der einfachen Kontrolle nicht mehr möglich ist. Es liegt nahe, dass man nicht mehr auftaucht, wenn man nach Luft schnappt, solange der Kopf unter Wasser ist.« Sie seufzt kurz, zieht die Sache aber bis zum logischen Ende durch. »Wegen des
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