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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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Salz­geschmack. Mein Herz weiß nicht, dass es nur ein Traum war: Es rast, darauf ausgerichtet zu überleben. Das digitale Display der Hoteluhr zeigt 15.36 Uhr. Ich habe weniger als eine Stunde geschlafen.
    Ich stehe auf und schalte alle Lampen an, obwohl das Zimmer von Sonnenlicht durchflutet ist – die neben dem Schrank, die hässliche Leuchtstofflampe im Bad, die Schreibtischlampe. Dabei verscheuche ich Geister und wische die Spinnennetze des Alptraums fort. Ich räume auf. Ich kann mir nicht vor­stellen, welche Erfahrungen ich im Schwimmbecken machen werde, und Sachen zu ordnen erscheint mir irgendwie sinnvoll. Ich schaue auf mein Mobiltelefon. Johnny simst: Denk an Dich, Schätzchen. Was ist mit dem Bier? Weg damit, in den Papierkorb.
    Meine E-Mails sind etwas von allem, plus Müll. Ich beantworte ein paar davon, lösche alle und laufe dann in dem engen Raum auf und ab. So wahnsinnig unruhig, wie ich bin, würde der Unsinn im Fernsehen es nur noch schlimmer machen. Ich fange an, meine eigene Version von Sportpsychologie zu trainieren: Ich stelle mir die warme Dusche vor, die ich nehmen werde, wenn ich aus dem Pool komme. Worüber mache ich mir überhaupt Sorgen? Sie werden mich schon nicht sterben lassen. Ich habe ein Ticket für den Rückflug nach Boston, Abflug morgen Abend, 18 Uhr 35 – ein Zwischenstopp in Atlanta –, Ankunft Logan International 0 Uhr 27. Dienstagmorgen sitze ich wieder an meinem Schreibtisch. Und wenn Leute mich fragen, was ich denn in meinen Miniferien so gemacht habe, werde ich ihnen eine weitere Geschichte über das Wasserreich erzählen können, die nicht zu toppen ist.
    Mein Mobiltelefon klingelt. Im Display erscheint der Name von Thomasina, aber stattdessen höre ich Noahs flüsternde Stimme: »Pirio?«
    »Ich bin hier, Noah. Stimmt was nicht?«
    »Nein.« Eine Pause so groß wie Texas.
    »Was ist denn los?«
    »Nichts.«
    »Warum rufst du an?«
    »Keine Ahnung.« Ein leicht vorwurfsvoller Ton: Die Frage war zu schwierig oder zu direkt.
    »Okay, Noah. Ist deine Mom da? Kann ich sie mal sprechen?«
    »Sie ist nicht hier.« Er spielt mit irgendwas aus Plastik, vielleicht mit Legos oder einer Ninjafigur.
    »Wo ist sie?«
    »Im Gefängnis.«
    »Was?«
    Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen, aber ich höre, wie er sein Schluchzen unterdrückt.
    »Hat sie dich angerufen?«
    »Mhm-mh.« Machtlos wie ein Kätzchen.
    »Wie lange ist sie schon weg?«
    »Mhmmm … vielleicht … Nur einen Tag.«
    »Du bist schon den ganzen Tag allein?«
    »Und die Nacht.«
    »Noah, alles okay?« Blöde Frage.
    »Ich glaube, mit Jerry stimmt was nicht.«
    »Jerry? Wer ist Jerry?«
    »Weißt du doch, Pirio. Mein Hamster.«
    »Oh ja, richtig. Jerry. Was ist mit ihm?«
    »Ich glaube, er ist gestorben.« Seine Stimme stockt, wieder werden Gefühle runtergeschluckt. Ich kann mir sein Gesicht vorstellen, wenn er nicht weint und sich nicht fürchtet. Der Gedanke daran, wie sein Gesicht in diesem Augenblick aussieht, reicht aus, um mich vor Schmerz verrückt zu machen.
    »Gibt es jemanden, zu dem du gehen kannst, bis ich da bin, Noah?«
    »Nein, ich will nirgendwohin gehen.«
    »Was ist mit deiner Großmutter?«
    »Sie wird mich meiner Mom wegnehmen.«
    »Was ist mit euren Nachbarn?«
    »Die sind gemein. Die schreien mich nur an.«
    »Was ist mit Daniel? Kannst du zu dem gehen?«
    Pause. Seine Stimme wird zu einem Flüstern. »Pirio, ich will nicht, dass es jemand erfährt.«
    »Ah-ha. Verstehe. Ich kann meinen Flug wahrscheinlich umbuchen und wäre dann heute Nacht so gegen eins da. Ist das für dich okay?«
    »Kannst du nicht schneller kommen?«
    »Nein, Noah, kann ich nicht. Ich bin in Florida. Aber ich kann dich ganz viel von meinem Handy aus anrufen, und du mich.«
    »Okay. Dann mache ich meine Hausaufgaben«, sagt Noah, klingt jetzt beruhigt und zu erwachsen.
    Sowie wir aufgelegt haben, wähle ich Thomasinas Nummer, lande aber auf der Mailbox. Ich schicke ihr eine SMS und dann eine E-Mail von meinem Computer aus. So etwas Furchtbares hat Thomasina noch nie zuvor verbockt. Jetzt hat sie eine kri­tische Grenze überschritten. Ich rufe die Polizei in Brookline an, aber sie geben mir keine Informationen. Aus Wut bin ich versucht, das Jugendamt anzurufen. Aber was würden die tun? Eine grausame und beschämende Ermittlung anberaumen und vielleicht Noah aus seinem Zuhause rausnehmen. Was für Noah eine Katastrophe wäre, noch ein plötzlicher, verheerender Verlust. Davon abgesehen ein brutaler

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