Die Frau die nie fror
Verrat an Thomasina, einer, den sie noch nicht verdient hat.
Ich buche mein Ticket um und habe noch ausreichend Zeit für die Abendmaschine um 18 Uhr 35. Ich packe schnell und bestelle mir ein Taxi. Von unterwegs werde ich Eileen eine Nachricht auf den Anrufbeantworter sprechen. Die Navy wird warten müssen.
Kapitel 10
E s ist schon nach eins, als ich vor Thomasinas Wohnung stehe und die Tür mit dem Schlüssel öffne, den sie mir vor langer Zeit gegeben hat. Noah schläft, allerdings nicht in seinem Bett. Er sitzt zusammengesunken wie ein alter Mann auf einem Stuhl. Sein Kopf hängt nach vorn, was gefährlich aussieht, als würde er gleich von seinen Schultern fallen und auf den Boden kullern. Er trägt Jeans, Turnschuhe, die ordentlich mit einem Doppelknoten zugebunden sind, und seine nachgemachte Army-Jacke. Neben dem Stuhl steht eine Sporttasche. Ich brauche gar nicht erst hineinzusehen, um zu wissen, dass darin alles verstaut ist, was für ihn seine wichtigsten Besitztümer sind, und vielleicht, sofern er daran gedacht hat, auch seine Zahnbürste und frische Unterwäsche.
Schon immer ein leichter Schläfer, hebt Noah den Kopf und blinzelt in das Licht, das ich beim Hereinkommen angeschaltet habe. Er sagt hi. Ich sage hi. Keine großen Gefühlsduseleien, weil wir eben so sind, er und ich. Nur zwei Menschen, die sich von einer verdammten Sache, die nach hinten losgegangen ist, zur nächsten hangeln.
Der Anrufbeantworter blinkt. Anzahl der Nachrichten: 7. Ich frage ihn, ob er sie schon abgehört hat.
Sein Schulterzucken heißt sowohl ja als auch nein.
Zugegeben, eine blöde Frage. Wenn er die Nachrichten abgehört hätte, würde das rote Licht nicht blinken. Vielleicht hat er aber zugehört, als sie aufgesprochen wurden, weil er der Regel seiner Mutter gefolgt war, nicht ans Telefon zu gehen, wenn es jemand war, den er nicht kannte. Vielleicht hatte er aber auch geschlafen.
Ich drücke auf den Knopf und höre angeekelt zu, wie Freund Max seine Schönste fragt, wo und wann. Er erwähnt, es sei Samstagmorgen, was uns einen Anhaltspunkt gibt. Dann sagt er, er könne es kaum erwarten, sie mit Küssen zu bedecken und die Innenseiten ihrer Oberschenkel abzulecken. Die Worte sind draußen, bevor ich den Überspringen-Knopf drücken kann. Weder Noah noch ich geben dazu einen Kommentar ab. Die nächsten Nachrichten sind irgendein Schwachsinn, mit dem wir Bürger regelmäßig anästhesiert werden: eine Ankündigung der Schule, irgendeine unverlangte Werbung. Dann beschuldigt eine Stimme, die sich anhört wie das knarrende Eis eines zugefrorenen Sees, Thomasina, Neds Computer aus seinem Haus gestohlen zu haben. Ich brauche einige Sekunden, um Neds Mutter Phyllis zu erkennen, die wie üblich Gift versprüht. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Thomasina, die alles hat, Neds Computer stehlen würde. Also handelt es sich vermutlich nur um Phyllis’ Art, die Vendetta fortzusetzen, die ihrem Leben einen Sinn zu geben scheint.
Jetzt ertönt Thomasinas Stimme. »Noah? Süßer? Noah, Baby, heb den Hörer ab.« Pause. »Los, mach schon, Noah. Bitte heb ab.« Pause. »Okay, also du hebst nicht ab. Vielleicht bist du ja immer noch auf dem Treffen vom Wissenschaftsklub, oder Daniels Mutter hat euch hinterher mit in den Skatepark genommen. Ich hab auch versucht, dich auf deinem Handy zu erreichen, bin aber nicht durchgekommen. Hast du vergessen, es anzuschalten? Tut mir leid, dass ich dir heute Morgen nicht erzählt hab, dass ich unterwegs sein werde, wenn du zurückkommst. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird. Ich muss hier noch was erledigen. Mach dir einfach ein Sandwich zum Abendbrot. Es muss noch Erdnussbutter da sein, und im Gefrierfach ist noch Eiscreme. Und wenn du diese Nachricht bekommst, melde dich . Mein Telefon ist an. Vielleicht kann ich nicht abheben, weil ich gerade sehr beschäftigt bin, aber dann hinterlasse einfach eine Nachricht, damit ich weiß, dass bei dir alles okay ist. Ich liebe dich, Süßer. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald zu Hause.«
Noah und ich sehen uns an, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir wissen beide, dass die Hiobsbotschaft nicht mehr weit ist.
In der folgenden Nachricht ist Thomasina eindeutig betrunken. Im Hintergrund hört man das Gelächter, das Erwachsene von sich geben, wenn sie überhaupt nicht witzig sind. Männliche und weibliche Stimmen schwirren durcheinander. Über diesen Lärm hinweg erzählt sie etwas von wegen Pirio anrufen, aber sie hätte mich
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