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Die Frau die nie fror

Die Frau die nie fror

Titel: Die Frau die nie fror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Elo
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nicht erreicht. Sagt Noah, er solle einfach ins Bett gehen, und wenn er morgen früh aufwacht, sei sie direkt da, in der Küche, und würde Bagels toasten. Wie eine gute Mutter , fügt sie hinzu. Ich kann spüren, wie Noah zusammenzuckt. Dann kichert sie, als würde jemand sie kitzeln, kreischt wie ein Teenagermädchen, das ihre Freundinnen im Einkaufszentrum trifft, und ruft Sei ein lieber Junge! in das Telefon.
    Ich schaue Noah nicht an. Ich möchte nicht sehen, was in seinem Gesicht geschrieben steht, und nicht, dass er in meines schaut. Auf meinem Mobiltelefon waren keine Nachrichten von Thomasina. Vielleicht wusste sie nicht, dass ich unterwegs war, und hat bei mir zu Hause angerufen.
    Ich versuche mir vorzustellen, was Noah davon abgehalten hat, den Hörer abzuheben. Vielleicht das Unvermögen, die richtigen Worte zu finden. Mach dir keine Sorgen, Mom. Ich mache mir Abendbrot und räume hinterher wieder ab. Ich werde nicht zu viel Fernsehen gucken und werde mich weder fürchten noch einsam sein. Mach du weiter. Viel Spaß noch. Das ist ein höherer Grad an Lügen, als Noah in seinem zarten Alter bewältigen kann. Natürlich hätte er auch ehrlich sein können. Hätte den Hörer abnehmen und echte Tränen weinen können. Tränen, die in der rauschhaften Karnevalsatmosphäre der Erwachsenen, die gerade künstlichen Spaß haben, verpufft wären. Sehnsucht, Sorge, Wut und Angst. Seine Mutter mit genau den Gefühlen jagen, vor denen sie weglief.
    Auch die letzte Nachricht ist von ihr. In dieser klingt sie angespannt, klar und schlüssig, wie eine Flugbegleiterin, die die Abläufe einer Notlandung erklärt. Sie sagt, sie sei verhaftet worden und man würde sie über Nacht dabehalten. Sie will ihren einen Telefonanruf nicht mit dem Versuch vergeuden, mich zu erreichen, und bittet Noah, es auf meiner Nummer zu probieren, bis er durchkommt. Ihre Stimme ist so kontrolliert, dass ich vermute, wer auch immer ihr zuhörte, hatte keine Ahnung, dass sie mit einem Zehnjährigen telefonierte.
    Noahs Gesicht ist aschfahl. Zweifellos stellt er sich Gefängnisse aus Stahl und Beton vor, wie die, die er im Fernsehen gesehen hat, jene, die Menschen wie Fliegen verschlucken und wie Dreck behandeln.
    »Es ist kein richtiges Gefängnis«, erkläre ich ihm. »Nur die Polizeiwache die Straße runter. Ich gebe ihnen etwas Geld, und sie lassen sie nach Hause gehen.«
    Er nickt, benommen von der komplizierten Erwachsenenwelt, und streift dann mit seinem Blick den Hamsterkäfig in der Ecke des Zimmers.
    Wir nähern uns ihm gemeinsam, langsam, als wär’s eine Bombe, die hochgehen könnte. Obwohl Jerry nur ein Nagetier mit einer kurzen Lebenserwartung ist, obwohl es nicht ungewöhnlich für ein Nagetier ist, plötzlich und aus unbekannten Gründen zu sterben, und obwohl Erwachsene dafür bekannt sind, den Tod dieser Art von Haustieren als relativ harmlose Lektion für ihre Kinder zu nutzen, was das große Thema Vergänglichkeit betrifft, fürchte ich mich. Was, wenn er nicht wirklich tot ist, sondern nur leidet? Oder schon sehr lange tot ist und deshalb hart wie ein Brett? Tod bleibt Tod – immer schockierend, in welcher Art und Form er auch daherkommt.
    Instinktiv halten Noah und ich uns an der Hand. Ich öffne den Käfig. Kein Jerry. Mit der freien Hand grabe ich herum und finde die kleine Leiche unter einem Haufen Sägespäne. Sie ist kalt und hart. Das Fell fühlt sich, falls das überhaupt sein kann, synthetisch an.
    »Du hattest recht«, sage ich zu Noah.
    Er nickt kurz und spielt den kleinen Mann. Aber seine Hand drückt meine.
    In der Küche wickeln wir Jerrys sterbliche Überreste in ein Geschirrtuch und suchen nach einer Schachtel, können aber keine finden. Am Ende nehmen wir eine Plastikbox mit Schnapp­deckel.
    *
    Wir fahren in meine Wohnung, nehmen die Plastikbox mit, und ich mache Noah etwas zu essen. Wir sprechen weder über seine Mutter noch über sein totes Haustier. Stattdessen unterhalten wir uns über einen Mann, der eine Windkraftanlage in seinem Garten aufstellen will. Der Stadtrat erlaubt es ihm nicht. Ich nenne das Schwerfälligkeit, unverzeihliche Ignoranz und tragische Massenhysterie. Ich weiß, ich übertreibe. Noah überlegt laut, wie groß die Windkraftanlage wohl wäre. Keiner ist mit dem Herzen bei dem Gespräch. Es ist drei Uhr morgens. Wir versuchen uns abzulenken.
    Seine Lider sind so schwer, dass sein Kopf ihnen sofort folgt, als sie zuklappen. Er wacht mit einem Ruck auf, will die Unterhaltung

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