Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
übereinandertürmten. Überall brannten Lichter, in den Häusern, an den Fahrrädern, die sich in der glatten Wasseroberfläche spiegelten.
Dexter war mit den Jungs ins Hotel zurückgefahren, wo sie eine Weile fernsehen durften, ehe sie sich um acht Uhr mit seinem Freund Brad treffen würden.
Kate fand eine Bankfiliale und betrat den engen Vorraum mit den Geldautomaten. Statt ihre übliche Bankkarte herauszuziehen, griff sie ins Innenfach ihrer Brieftasche, in der ein halbes Dutzend Plastikkarten steckte. Eigentlich hätte sie sie nach Europa nicht mitzunehmen brauchen, aber sie hatte es trotzdem getan: die laminierte Sozialversicherungskarte, ihren alten Firmenausweis, die Mitgliedskarte des Fitnessclubs in D. C. Und die Karte für das Konto, das auf ihren Mädchennamen lief, jenes Konto, von dem Dexter nichts wusste.
Sie hob den höchstmöglichen Betrag ab: tausend Euro. Und noch einmal tausend von ihrem gemeinsamen luxemburgischen Konto, ehe sie von zwei Kreditkarten einen Barvorschuss von jeweils weiteren tausend Euro zog.
Kate betrat einen kleinen Laden an einer Ecke und kaufte eine Packung Plastiktüten, eine Rolle Klebeband und eine Flasche Wasser. Sie hatte Durst und war nervös.
Die Straßen wurden immer schmaler, und rot erleuchtete Schaufenster reihten sich mittlerweile dicht an dicht. Sie öffnete die Tür zu einem hell erleuchteten Café. Von außen hatte es ganz harmlos ausgesehen, doch der erste Eindruck täuschte offenbar. Sie bestellte eine Cola, trank sie zügig aus und legte ein paar Münzen auf den Tresen, dann folgte sie den Schildern zur Toilette, die sich am Ende eines engen, düsteren Treppenaufgangs befand. Zwei Männer drückten sich auf dem Flur herum, scheinbar mitten in irgendeiner dubiosen Transaktion.
»Entschuldigung«, sagte sie, schob sich an ihnen vorbei und schloss die Tür hinter sich ab. Sie nahm die Plastiktüten aus der Verpackung, riss eine an der Perforierung ab und warf die restlichen in den Mülleimer. Dann zog sie den dicken Packen Scheine aus der Tasche, nahm ein paar Hunderter heraus und steckte den Rest in die Plastiktüte, die sie mit dem Klebeband umwickelte.
Sie setzte sich auf die Toilette und zog ihren linken Stiefel aus. Normalerweise schlug sie grundsätzlich das rechte über das linke Bein. Sie hatte keine Ahnung, ob sie die Beine übereinanderschlagen würde. Sie hatte keine Ahnung, wie das Ganze hier funktionieren sollte, falls es überhaupt funktionierte. Aber Vorsicht war besser als Nachsicht.
Der Stiefelabsatz war nicht besonders hoch, aber er würde reichen. Am hinteren Ende der Sohle, direkt am Übergang zu dem mit einem Gummischutz versehenen Absatz, befand sich eine Ausbuchtung, in die sie das zusammengerollte Geldbündel klebte.
Sie verließ die Toilette und trat auf die Straße. Die Coffeeshops waren proppenvoll und laut, Marihuanawolken drangen aus den Türen und hingen süßlich schwer in der Luft.
Ein junger Mann sah ihr in die Augen, offenbar eine Aufforderung. Sie musterte ihn, lehnte wortlos ab. Ging weiter.
Sie folgte einem weiteren Kanal, der ganz anders aussah als alles, was sie vom schönen, prächtigen Amsterdam bisher gesehen hatte. Die Straße war von Sexshops, Nachtclubs und rot erhellten Fenstern gesäumt.
Wieder nahm ein Mann Blickkontakt auf; dieser war älter, wirkte härter. Er nickte ihr zu, sie nickte zurück. Er sagte etwas auf Holländisch. Sie verlangsamte ihre Schritte, sagte jedoch nichts.
»Du brauchst was?« Englisch mit karibischem Akzent. Er war weit weg von zu Hause. Genau wie sie.
»Ja.«
Goldzähne blitzten auf. »Was?«
»Etwas Bestimmtes«, sagte sie. »Mit Stahl. Und Blei.«
Das Lächeln verschwand. »Da kann ich dir nich’ helfen.«
Sie zog einen Zwanziger aus der Tasche. »Wer dann?«
»Geh zu Dieter. Da vorn.« Er legte den Kopf schief, sodass ihm die Dreadlocks ins Gesicht fielen.
Sie ging zu dem Liveclub, an dem riesige Poster klebten, die keinen Zweifel am Programm ließen, das darin geboten wurde. Ein Mann in einem glänzenden schwarzen Anzug, mit spitzen Schuhen und einer schmalen Lederkrawatte stand davor und behielt das Kommen und Gehen im Auge. Er sah Kate an. »Guten Tag«, sagte er auf Deutsch.
»Hi. Dieter?«
Er nickte.
»Ich suche nach etwas. Ein Freund sagte, Sie könnten mir helfen. Es ist aus Stahl.«
Dieter musterte sie verwirrt. »Diebstahl?«
»Nein«, sagte sie. »Stahl. Metall.« Sie hob die Hand, formte mit den Fingern eine Pistole und wackelte mit dem Daumen.
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