Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
zurückfallen, zieht die Hand unter dem Tisch hervor, streckt den Arm aus und legt die Hand auf Julias Finger. Behutsam streicht sie mit dem Daumen über Julias Handrücken.
Bill nickt Kate zu. Ein langes Nicken, ein unmissverständlicher Dank. Auch er zieht die rechte Hand unter dem Tisch hervor und legt sie um sein Weinglas.
Kate will nicht, dass diese Frau ihr Kind im Gefängnis zur Welt bringen muss. Sie will für ein so schreckliches Schicksal nicht verantwortlich sein.
Sie schafft es ja kaum, die Verantwortung für etwas ähnlich Schreckliches zu tragen.
Nein – für etwas noch viel Schrecklicheres.
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Ein Taxi hupte auf der Park Avenue, Morgenlicht drang durch die Gardinen hinter den dicken Samtvorhängen, Staubkörnchen tanzten in dem goldenen Lichtstrahl. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit den Resten eines Frühstücks – halbaufgegessener Toast und Eier, knusprige Speckscheiben und Bratkartoffeln.
Blut sickerte aus den Wunden in Torres’ Brust und Kopf und verteilte sich auf dem hellen Teppichboden.
Immer noch schrie das Baby.
Eine Flut an Informationen brach über Kate herein – sie hatte von Torres’ Frau gewusst, sie war einige Jahre zuvor während eines Routineeingriffs an Komplikationen gestorben.
Aber sie hatte keine Ahnung gehabt, dass es eine neue Frau und ein Baby gab. Kate hatte recherchiert – welches Hotel, welche Zimmernummer, wie viele Leibwächter wann und wo postiert waren. Sie hatte auch die Logistik geplant: wie sie von Washington nach New York City kam, vom Bahnhof ins Hotel, wie sie die Waffe loswerden und aus dem Hotel gelangen würde.
Sie war nachlässig, faul und ungeduldig gewesen. Ihre Recherchen waren nicht ausgiebig genug gewesen. Sie hatte nicht alles in Erfahrung gebracht, was es zu wissen galt.
Und da war sie – die Überraschung. Eine junge Frau, die in der Schlafzimmertür der Suite im Waldorf-Astoria stand und sich in Richtung des Raums drehte, aus dem das Schreien ihres Babys ertönte, unfähig, den Instinkt zu unterdrücken, sich um ihr Kind zu kümmern. Und ohne zu ahnen, dass sie, indem sie den Blick von Kate löste, das Band zwischen den zwei Frauen zerriss und ihr damit gestattete, das Schlimmste zu tun, was sie je in ihrem Leben getan hatte.
Es war Kates Schuld. Ihr Unvermögen, die Mission mit der erforderlichen Sorgfalt zu planen. Und genau aus diesem Grund würde sie morgen früh gleich als Erstes in das Büro ihres Vorgesetzten marschieren und kündigen.
Kate drückte ab.
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Kate wirft einen Blick auf die Zuckerdose, in der das Mikrofon versteckt liegt. Vor nicht einmal zwei Stunden saß sie noch mit Hayden auf der anderen Seite der Stadt, nicht einmal eine Meile nördlich von hier, und hat ihren Deal mit ihm verhandelt. Und jetzt sitzt sie hier und zieht ihn durch.
Sie muss die beiden nicht festnehmen, sie muss nicht einmal bei ihrer Verhaftung dabei sein. Das ist nicht Teil ihrer Abmachung. Sie soll sie lediglich dazu bringen, alles zuzugeben. Was sie beinahe geschafft hat. Und morgen früh muss sie die vierundzwanzig Millionen Dollar auf ein Konto für Geheimoperationen in Europa überweisen. Deren Leitung sie übernehmen wird.
»Brauchst du irgendetwas von Dexter, um an deine Hälfte des Geldes zu kommen?«
Julia nickt. Aber ein Nicken genügt nicht. »Was?«, fragt Kate.
»Die Kontonummer. Den Usernamen und die Passwörter habe ich schon, aber die Kontonummer selbst nicht.«
Dexter nickt ebenfalls. Es ist Zeit. Endlich. Er greift in seine Sakkotasche und zieht einen Zettel heraus. Kate packt sein Handgelenk.
Er sieht sie verwirrt an. Alle sind verwirrt und scheinen sich zu fragen, was hier los ist. Selbst Kate – sie kann nur staunen, wie groß ihr Bedürfnis ist zu verzeihen. Zu groß, um es zu unterdrücken. Sie weiß, dass Julias Schwangerschaft der Grund dafür ist, weshalb eine abscheuliche Schurkin mit einem Mal zur sympathischen Heldin wird. Mittlerweile steht sie auf Julias Seite, zumindest größtenteils.
Kate hält Dexters Hand fest, dessen Finger sich um den Zettel geschlossen haben. Mit der rechten Hand greift sie nach der Zuckerdose und kippt ihren Inhalt auf den Tisch. Mit Daumen und Zeigefinger pflückt sie den Sender aus den Zuckerwürfeln und hält ihn in die Höhe. Die anderen starren ihn an.
Kate lässt den Sender in ihr Weinglas fallen. »Ihr habt eine Minute«, sagt sie, »höchstens zwei.«
Julias Blick wandert von dem Sender in Kates Glas zu Dexters Faust. Vorsichtig kippt Kate ihr Glas um,
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