Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)
fünfzig Millionen …
Kate raste durch die verwaiste Ödnis einer winterlichen Ackerlandschaft. Alles war zurückgeschnitten und kahl, sodass selbst die niedrigsten Gebäude turmhoch aufzuragen schienen. Scheunen, Getreidespeicher und einstöckige Bauernhäuser säumten die Straßen, die im Mittelalter als Pfad angelegt und während der Renaissance verbreitert worden waren, um Pferdegespannen Platz zu bieten, ehe man sie asphaltiert hatte, damit sie von den Fahrzeugen des 20. Jahrhunderts befahren werden konnten.
Wo war die andere Hälfte des Geldes? Sie musste auf diesem anderen Konto liegen, dem Konto, zu dem Dexter auf dem Zettel keine näheren Angaben notiert hatte. Aber weshalb hatte er nur den Usernamen und das Passwort des einen Kontos aufgeschrieben?
Weil er das Ganze nicht allein durchgezogen hatte? Sondern mit einem Partner? Mit Marlena? Mit Niko? Oder beiden?
Kate hatte das Navi nicht eingeschaltet. Schließlich hatte sie Sebastians BMW nur ausgeliehen, um sich unbemerkt bewegen zu können. Sie orientierte sich mithilfe einer Landkarte, die sie inzwischen in regelmäßigen Abständen heranziehen musste, um sich in dem Gewirr aus nicht nummerierten Straßen zurechtzufinden, die alle paar Kilometer ihren Namen änderten.
Schließlich war sie in Bigonville, in der Rue des Pins, einer Straße ohne Fahrbahnmarkierung, die man leicht übersehen konnte.
Inzwischen war sich Kate – zu 99, wenn nicht sogar zu 100 Prozent – sicher, dass Dexter auf illegale Weise einen hohen Millionenbetrag in seinen Besitz gebracht hatte. Und dass sie mit genau diesem Geld ihre Lebenshaltungskosten, die Spielsachen für die Jungs und den Diesel bezahlte, den sie erst gestern Vormittag in ihren Wagen getankt hatte – dreiundsechzig Euro, fast hundert Dollar für eine Tankfüllung ihres gebrauchten Audis.
Ein Gebrauchtwagen. Hier prallten zwei auf den ersten Blick unvereinbare Tatsachen aufeinander – obwohl der Mann fünfundzwanzig Millionen Euro auf dem Konto liegen hatte, kaufte er einen Gebrauchtwagen?
Bei dem Abendessen mit diesem Arschloch Brad in Amsterdam hatte Kate gelitten – ein Typ mit mehreren Millionen Dollar auf der Bank, der seine gesamte Freizeit und Energie darauf verwendete, dieses Geld auszugeben. Seine Autos, seine Häuser, seine Urlaube. Genau wie die reichen Luxemburger.
Dexter gehörte eindeutig nicht zu dieser Sorte.
Das Ganze ergab schlicht und einfach keinen Sinn.
Die Straße führte vom Fluss weg und einen steilen Berg hinauf, der den Blick auf eine weitläufige, hügelige Landschaft freigab. Rechts am Straßenrand verlief eine uralte Steinmauer, entstanden vermutlich aus der Notwendigkeit heraus, die Felder von Steinen und Felsstücken zu befreien. Jenseits der Mauer erstreckte sich ein riesiger, von bräunlich grünem Gras bedeckter Acker, der brachzuliegen schien.
Kate erblickte das weiß getünchte Bauernhaus mit schwarzem Schieferdach, umgeben von mehreren kahlen Eichen, die im Sommer bestimmt angenehmen Schatten spendeten. Um das Haus herum verliefen mehrere niedrige, halb zerfallene Steinmauern, die wie die Ruinen einer römischen Anlage aussahen – riesige Räume und eine feudale Eingangshalle.
Sie drosselte das Tempo und warf erneut einen Blick in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass ihr tatsächlich niemand gefolgt war. Weit und breit war nichts zu sehen, kein Wagen, kein Laster, kein Traktor. Die Fensterläden waren geschlossen. Nichts deutete darauf hin, dass in diesem von sommergrünen Leibwächtern beschützten Haus mitten im Nirgendwo irgendjemand wohnte.
Rechts von der Straße verlief ein steiler Graben mit tiefen Bewässerungsrinnen, sodass es unmöglich war, am Rand zu halten und auszusteigen. Die Zufahrt zum Haus führte durch eine Lücke in der Steinmauer, die durch eine Kette mit einem einfachen Vorhängeschloss gesichert war. Auf einem der Steinpfeiler befand sich ein weißes Emailleschild mit der Nummer 141. Dies war die Rue des Pins 141 in Bigonville, Luxemburg. Daran bestand kein Zweifel. Die Firmenzentrale von LuxTrade S. A.
Kate hielt mitten auf der Straße an. Es war sinnlos, hier zu warten und sich auf die Lauer zu legen, bis die Besitzer oder irgendwelche Besucher auftauchten. Sie sah sich um. Im Umkreis einer halben Meile gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sich unbemerkt an dieses Haus anzuschleichen, war schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.
Fest stand, dass dies ein ziemlich ungewöhnlicher Ort für eine fünfundzwanzig
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