Die Frau, die niemand kannte: Thriller (German Edition)

festgestellt, dass sich die Summe, die dem Colonel gestohlen worden war, in Wahrheit tatsächlich auf fünfzig Millionen Euro belief, also genau doppelt so viel, wie Julia angegeben hatte – eine reichlich merkwürdige Diskrepanz. Die Zahl war viel zu glatt, zu gerade für einen gewöhnlichen Irrtum. Er war sich sicher, dass es eine logische Erklärung dafür geben musste, zermarterte sich das Hirn nach einer Erklärung. Und am Ende fand er sie – möglicherweise, weil er die Verschwörung mit dem notwendigen Abstand betrachten und sich mit der erforderlichen Muße einen Reim darauf machen konnte. Er begriff, welche unglaubliche Summe auf dem Spiel stand, und beschloss, seine Stärken – sein Aussehen, seinen Charme und seine Fähigkeit, für den Rest seines Lebens ein Geheimnis zu bewahren – gegen ihre Schwächen einzusetzen: ihre Unsicherheit, ihre Einsamkeit und ihre verzweifelte Sehnsucht, endlich eine eigene Familie zu haben, obwohl es nicht danach aussah, als würde sie jemals einen Ehemann finden.
    »Vielleicht«, fährt Kate fort, »ist es ja in Amsterdam passiert.« Sie legt ihre Hände mit den Handflächen nach oben in den Schoß und beugt sich vor. Dann lehnt sie sich wieder zurück, nimmt ihre linke Hand von ihrem Oberschenkel und legt sie wieder auf die Tischplatte – ein winziges Ablenkungsmanöver, das lediglich dazu dienen soll, dass niemand mitbekommt, wie ihre rechte Hand in ihre Handtasche wandert.
    Auch Bill verlagert sein Gewicht auf dem Stuhl, wenn auch weniger auffällig, doch ihr ist klar, dass er genau dasselbe tut wie sie.
    Julia wendet sich ihrem neuen Beau zu. Der in Wahrheit nicht ganz so neu ist. All das ist im letzten Januar passiert, immerhin vor anderthalb Jahren, eine lange Zeit, um mit jemandem zusammen zu sein, den man nicht liebt. Aber vielleicht liebt Bill Julia ja tatsächlich. Vielleicht hat er gelernt sie zu lieben.
    »Amsterdam«, fährt Kate fort, »ist doch eine sehr romantische Stadt. All die Drogen, die Prostituierten.« Aber sie weiß, dass es erst nach Amsterdam passiert ist. Nach dem Tag auf der Parkbank.
    Ganz langsam lässt Kate ihre rechte Hand nach unten wandern, vorbei an ihrer Puderdose, ihrer Sonnenbrille, dem Notizbuch, den Stiften, ihrem Schlüsselbund und den Zetteln, bis ganz nach unten zu dem Fach, in dem der schwerste Gegenstand liegt. Sie klappt es auf.
    Inzwischen starren Bill und Kate einander an. Sie sitzen hier, inmitten Tausender Menschen im Carrefour de l’Odéon. Die Dämmerung senkt sich über die Stadt. Es herrscht mildes Septemberwetter. Auf dem Tisch steht Wein – eine Szenerie wie aus dem Bilderbuch.
    Kate schließt die Finger um die Beretta.
    Bills Hand ist immer noch unter dem Tisch.
    Kate wendet sich Julia zu – eine einsame, unglückliche Frau, bis dieser Mann in ihr Leben trat. Und nun sitzen sie hier, scheinbar ein glückliches Paar. Julias Gesicht glüht förmlich vor Freude, auf ihren Wangen liegt ein rosiger Schimmer.
    Doch ihre Beziehung beruht auf einer gewaltigen Lüge, einem höchst unmoralischen Motiv. Ein einziges Mal hat sie einen Fehler gemacht und die verkehrte Zahl genannt. Und schon spinnt dieser Mann eine riesige Intrige, einen Betrug enormen Ausmaßes – Verführung, Affäre, Beziehung, schließlich ein Heiratsantrag, gefolgt von einem gemeinsamen Leben – um diesen winzigen Fehler und die Tatsache, dass er ihn bemerkt hat. Eine Lüge, die er schamlos ausgenutzt hat.
    Aber macht das ihre Beziehung weniger real? Schließt es aus, dass sie einander aufrichtig lieben?
    Sie wendet sich Bill zu, sieht seine Härte, seine Entschlossenheit. Was ist er zu tun bereit, um sein Geheimnis zu schützen?
    Unter der marmornen Tischplatte richten sie ihre Waffen aufeinander. Würde er sie notfalls töten? Würde er ihr hier, mitten in Paris, in den Bauch schießen? Und damit zu einem ewig Gejagten werden? Ist er bereit, sein ganzes Leben hinzuschmeißen – das Leben, das er sich gerade erst sorgsam aufgebaut hat –, nur um zu verhindern, dass Kate Julia die Wahrheit verrät?
    Dass er herausgefunden hat, was seine Partnerin – und ihr gemeinsamer Verdächtiger – vorhatten. Doch statt Julia zur Rede zu stellen, ging er auf den Schwindel ein. Er tat so, als wüsste er nicht, was vorging, als hätte er sich in sie verliebt und keine Ahnung von all dem gehabt, als Julia ihn schließlich einweihte.
    Wieder sieht Kate zu Julia hinüber, dieser merkwürdigen Frau, die in vielerlei Hinsicht so brillant ist und doch